WEIN-GEISTER-LESUNGEN 2023

Programm des ersten Halbjahres 2023

Donnerstag, 12. Januar 2023, 19 Uhr

Daniela Dröscher liest aus „Lügen über meine Mutter“

 

 

 

Foto: KIWI Verlag

Die mit zahlreichen Preisen bedachte Schriftstellerin studierte Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London und promovierte im Fach Medienwissenschaft. Sie ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mit ihrem aktuellen Roman stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022.

Daniela Dröscher erzählt vom Aufwachsen in einer Familie, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie. Entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag.

„Lügen über meine Mutter“ ist zweierlei zugleich, nämlich die Erzählung einer Kindheit im Hunsrück der 1980er, die immer stärker beherrscht wird von der fixen Idee des Vaters, das Übergewicht seiner Frau wäre verantwortlich für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg, die Anerkennung in der Dorfgemeinschaft. Und es ist eine Befragung des Geschehens aus der heutigen Perspektive: Was ist damals wirklich passiert? Was wurde verheimlicht, worüber wurde gelogen? Und was sagt uns das alles über den größeren Zusammenhang, die Gesellschaft, die ständig auf uns einwirkt, ob wir wollen oder nicht?

Schonungslos und eindrücklich lässt Daniela Dröscher ihr kindliches Alter Ego die Jahre in denen sich dieses „Kammerspiel namens Familie“ abspielte, noch einmal durchleben. Ihr gelingt ein ebenso berührender wie kluger Roman über subtile Gewalt, aber auch über Verantwortung und Fürsorge. Vor allem aber ist dies ein tragikomisches Buch über eine starke Frau, die nicht aufhört, für die Selbstbestimmung über ihr Leben zu kämpfen.

„Ein Selbstermächtigungsbuch, eine unbedingte Empfehlung“ (rbb Kultur)

Veranstaltungsort: Neues Schauspielhaus, Uelzen

 

Mittwoch, 15. Februar 2023, 19 Uhr

Rainer Moritz liest aus „Das Schloss der Erinnerungen“

 

 

 

Foto: Gunter Glücklich

Rainer Moritz ist Germanist, Literaturkritiker für mehrere Tageszeitungen und Rundfunksender, Kolumnist, Übersetzer, Autor und leitet außerdem seit 2005 das Literaturhaus Hamburg.

Ein Schlösschen im Südwesten Frankreichs, mit Blick auf die Pyrenäen. Lange war es im Besitz angesehener Familien, doch als Jean Durand, der letzte Schlossherr, stirbt, verfällt das Anwesen zusehends. Jeans Witwe, Madame Germaine, ist gezwungen zu verkaufen, an ein Münchner Ehepaar, das das Schloss saniert und zu einer Tagungsstätte mit Chambre d‘hȏtes ausbaut. Germaine, die die neunzig längst überschritten hat, erhält lebenslanges Wohnrecht, umsorgt von den neuen Besitzern und dem Personal, das die alten Gemäuer im Sommer mit Leben erfüllt, an dem Germaine aber nicht teilnimmt. Seit Jahren schon verlässt sie ihr Zimmer nicht mehr. Morgens hört sie Radio

 

Vatican, abends schaut sie sich Western mit John Wayne an. Die übrige Zeit verbringt sie damit, auf den Tod zu warten, ihren verschwommenen Erinnerungen nachzuspüren und sich die Frage zu stellen, welchen Sinn ihr Leben besaß – und noch besitzt. Bis zwei junge Frauen und ein im Schloss Station machender Schriftsteller sie aus der Reserve locken. Wird der Tod noch eine Weile warten müssen?

„Mit seiner bildhaften Sprache, detaillierten und feinsinnigen Beschreibungen schafft Moritz eine dichte Atmosphäre.“ (Julia Klug)

Veranstaltungsort: Neues Schauspielhaus, Uelzen

 

Mittwoch, 15. März 2023, 19 Uhr

Jan Faktor liest aus „Trottel“

 

 

 

 

 

 

Foto: KIWI

Der tschechisch-deutsche Schriftsteller und Übersetzer wurde mit etlichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Mit seinem stark autobiographisch geprägten Roman „Trottel“ stand er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022.

Im Mittelpunkt steht ein eigensinniger Erzähler, Schriftsteller, gebürtiger Tscheche und begnadeter Trottel, und die Erinnerung an ein Leben, in dem immer alles anders kam, als gedacht. Und so durchzieht diesen Rückblick von Beginn an auch eine dunkle Spur: die des engelhaften Sohnes, der mit dreiunddreißig Jahren den Suizid wählen und dessen früher Tod alles aus den Angeln heben wird. Ihren Anfang nimmt die Geschichte des Trottels dabei in Prag, nach dem sowjetischen Einmarsch. Auf den Rat einer Tante hin studiert der Jungtrottel Informatik, hält aber nicht lange durch. Dafür macht er erste groteske Erfahrungen mit der Liebe, langweilt sich in einem Büro für Lügenstatistiken und fährt schließlich Armeebrötchen aus. Nach einer denkwürdigen Begegnung mit der „Teutonenhorde“, zu der auch seine spätere Frau gehört, „emigriert“ er nach Ostberlin, taucht ein in die schräge, politische Undergroundszene vom Prenzlauer Berg, gründet eine Familie, stattet seine besetzte Wohnung gegen alle Regeln der Kunst mit einer Badewanne aus, wundert sich über die „ideologisch morphinisierte“ DDR, die Wende und entdeckt schließlich seine Leidenschaft für Rammstein.

“‘Trottel‘ ist der Versuch, einen Ausdruck zu finden für den unsagbaren Verlust. Erzählen, um darüber zu lachen. Gibt es eine größere Kunst?“ (3sat Kulturzeit)

Veranstaltungsort: Neues Schauspielhaus, Uelzen

 

Dienstag, 18. April 2023, 19 Uhr

Dagmar Leupold liest aus „Dagegen die Elefanten!“

Foto: Ralph Orlowski

Die Autorin studierte Germansitik, Philosophie und Klassische Philologie in Marburg, Tübingen und New York. Von 2004 bis 2021 leitete sie das „Studio Literatur und Theater“ der Universität Tübingen. Mit ihrem Roman „Dagegen die Elefanten!“ stand sie auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022.

Herr Harald ist der Mann in der Garderobe. Er gehört zum Theater wie der Vorhang, aber niemand kommt seinetwegen, das Rampenlicht ist für andere. Er nimmt den Menschen die Mäntel ab, die Taschen, was immer sie ihm anvertrauen, um für kurze Zeit unbeschwert zu sein, und wartet bis zum Schlussapplaus, das ist sein Einsatz. Doch eines Abends bleibt ein Mantel zurück, und in dem Mantel findet sich eine Pistole. Herr Harald trägt sie nach Hause, nur: Was will er damit tun? Er kann sich schlecht gegen alles zur Wehr setzen, was ihm an der Welt und den Mitmenschen als Zumutung erscheint. Aber vielleicht kann er ihre Aufmerksamkeit auf jemanden lenken, der wie er ein Schattendasein führt: die Frau, die für einen anderen die Noten umblättert und die er aus der Ferne verehrt.

Der tragische wie komische Protagonist dieser hinreißend erzählten Geschichte ist ein Held des Alltags, ein Mann in Dienstkleidung, einer, dem es niemand dankt. Und gäbe es die Literatur nicht – und Autorinnen wie Dagmar Leupold – wie sollten wir wissen, was für ein Reichtum an Gedanken und Gefühlen wie, wie viel waches Leben und wehe Sehnsucht sich dahinter verbirgt.

„Dagmar Leupolds neuer Roman ist weiteres Zeugnis einer subtilen Sprachkunst, die aus einem scheinbar blinden Stein Funken zu schlagen vermag. Dafür braucht es keine Aufgeregtheiten und Sensationen, keinen thrilling Effekt, dafür braucht es einen feinfühligen, unkonventionellen und aufmerksamen Umgang mit der Sprache.“ (FAZ)

Veranstaltungsort: Neues Schauspielhaus, Uelzen

 

Programm des zweiten Halbjahres 2023

Donnerstag, 24. August 2023, 19.00 Uhr

Eva Gesine Baur liest aus „Maria Callas – Die Stimme der Leidenschaft“

 

 

 

Foto: Irene Zandel

 

Maria Callas war eine Jahrhundertsängerin, deren Gesang bis heute ergreift. Sie war eine Ikone weit über die Musikwelt hinaus. Sie verkörperte radikaler als alle anderen Sängerinnen vor und nach ihr, was Oper bedeutet: Passion, Pathos, Leidenschaft.

In ihrer aufregenden, klugen und glänzend geschriebenen Biographie folgt Eva Gesine Baur dem Leben einer Künstlerin, die ans Äußerste ging, und erkundet, was sie so einzigartig machte. Die Autorin zeigt die Komplexität der Sängerin, die einen Kampf ausficht zwischen der stolzen und detailversessenen Künstlerin Callas und der sich nach Geborgenheit und Liebe sehnenden Privatperson Maria. Sie zeigt, wie sie als international berühmte Künstlerin sich gegen alle Verleumdungen und Sensationsgier zur Wehr setzen muss: „Ich kann sie nicht sehen, aber ich weiß, dass sie da sind, 2500 Monster, die nach mir gieren. Es ist, als würden ihre Köpfe und Herzen dampfen. Ich spüre eine Woge des Hasses, so als wünschten sie, ich wäre tot.“

Maria Callas sprengte als Künstlerin Konventionen und triumphierte vor allem in tragischen Rollen. Dabei verband sie eine fast unheimliche technische Perfektion mit einer Intensität des Ausdrucks, die betroffen machte. Doch die Risse und Widersprüche, die sie in ihren Figuren spürte, prägten auch ihr Leben.

Eva Gesine Baur schildert Callas‘ Konflikt mit der Mutter, ihren Hunger nach Liebe und Anerkennung, ihren von unbedingtem Willen gezeichneten Aufstieg und die Jahre ihres größten Ruhms. Sie erzählt von den Skandalen, die sie verfolgten und den Männern in ihrem Leben: ihrer glücklosen Ehe, ihrer tragischen Liebe zu Aristoteles Onassis, ihrer Schwärmerei für Luchino Visconti und der Leidenschaft für Pier Paolo Pasolini. Das Drama ihres Lebens und ihre tragische Kunst waren nicht voneinander zu trennen. Sie machten sie groß, am Ende einsam und bis heute unvergessen.

Eva Gesine Baur ist promoviere Kunsthistorikerin und hat zudem Literatur- und Musikwissenschaft, Psychologie und Gesang studiert. Sie hat Bücher über kulturgeschichtliche Themen und auch verschiedene Romane veröffentlicht.

„Dieses Buch wird lieben wer gern liest, wie die Opernwelt mal getickt hat. Und wie sie vielleicht immer noch tickt. Ein Lesegenuss, weil es geistreich unterhält, nie langweilt – und uns unser eigenes Urteil fällen lässt.“ (BR Klassik)

Veranstaltungsort: Neues Schauspielhaus, Uelzen

 

Dienstag, 19. September 2023, 19.00 Uhr

Steffen Kopetzky liest aus „Damenopfer“ (Rowohlt)

 

 

 

 

 

Foto: Enno Kapitza

Historischer Hintergrund des Romans ist die wahre Geschichte der deutsch-polnisch-russischen Internationalistin Larissa Reissner (1895 bis 1926), einer der herausragenden revolutionären Schriftstellerinnen ihrer Generation (Hamburg auf den Barrikaden, Oktober), deren gerade einmal dreißigjähriger Lebensweg wie an einem roten Faden Ereignisse, Protagonisten und Handlungsorte der russisch-deutschen und internationalistisch-revolutionären Geschichte der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts in einer Dichte aneinanderreiht, die man einzigartig nennen muss. Sie war u.a. erste Polit-Kommissarin der Roten Flotte, Agentin, Gesandte in Afghanistan, Chefredakteurin der Anti-Kriegszeitschrift RUDIN und eine glänzende Reporterin.

Die Erzählweise des Romans folgt nicht der Chronologie von Larissa Reissners Leben, sondern greift künstlerische Ausdruckmittel und Techniken auf, die nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt wurden: Die Collage des Surrealismus; die hart geschnittene Montage des (sowjetischen) Films, z.B. bei Eisenstein; aber auch die „karnevaleske“ und dialogischen Tradition des progressiven russischen Romans, wie  sie von Michail Bachtin entwickelt und an Werken wie Doktor Schiwago von Boris Pasternak exemplifiziert wurde. Pasternak selbst übrigens war derart von Reissner fasziniert, dass er die weibliche Hauptfigur seines Jahrhundertromans Doktor Schiwago nach ihr formte und ihr den Namen Lara gab.

Die Rahmenhandlung des Romans ist in den Tagen um Larissa Reissners Beerdigung situiert und entwirft aus vielen verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlichen literarischen Formen (autobiographischer Bericht, Protokoll, Drehbuch usw.) die komplexe Biografie einer Frau, die ihr Leben, Lieben und Schreiben vollständig und rücksichtslos gegen sich selbst in den Dienst der planetaren Revolution gestellt hat.

Viele Zeitgenossen verehrten sie (Achmatowa, Majakowski, Pasternak, Trotzki, Radek, Babel, Pilnjak uv.), ihre Moskauer Beerdigung war ein gesellschaftliches Ereignis, Pasternak verfasste ein Gedicht für sie und verlas es an ihrem Grab. Trotzki nannte Larissa Reissner „Die Madonna der Revolution“.

Steffen Kopetzky ist Autor von Romanen, Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken. Sein Roman Risiko war für den Deutschen Buchpreis nominiert, der Bestseller Propaganda für den Bayrischen Buchpreis. Sein Roman Monschau stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste.

„Steffen Kopetzky versteht es wie kein Zweiter, die zu Unrecht vergessenen aus dem trüben Wasser der Geschichte zu fischen und um sie herum einen spannenden Roman zu weben.“ (Volker Kutscher)

Veranstaltungsort: Neues Schauspielhaus, Uelzen

 

Mittwoch, 18. Oktober 2023, 19.00 Uhr

Matthias Politycki liest aus „Alles wird gut – Chronik eines vermeidbaren Todes“ (Hoffman und Campe)

Mit seinem neuen Roman begibt sich Matthias Politycki nach Afrika. Im Zentrum steht eine faszinierende Frauenfigur, die nicht länger bereit ist, sich den jahrhundertealten Rollenerwartungen ihres Volkes zu fügen. Er erzählt von einem Land, das auf der Suche nach einer besseren Zukunft ist, vom Konflikt zwischen den Geschlechtern und den verschiedenen Ethnien – und von einer Liebe, die eigentlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist.

Äthiopien 2020, am Vorabend des Bürgerkriegs: Josef Trattner, Ausgrabungsleiter im Norden des Landes, verschlägt es an die Grenze zum Südsudan. In der winzigen Siedlung Surma Kibish begegnet er Natu, einer Frau mit abgerissenem Ohrläppchen – und einer Aura von Schönheit, Stärke und Gefahr, die ihn sogleich in ihren Bann zieht. Das dann folgenden Geschehen hat der Autor tatsächlich erlebt, war aber als Gast des Volkes nicht in der Lage, einzugreifen. Im Roman wird Trattner dann Zeuge einer Szene von großer Grausamkeit: Natu wird im Beisein der Dorfgemeinschaft mit Stockhieben gezüchtigt. Als sie am nächsten Tag plötzlich in seinem Wagen sitzt, wähnt er sich bereits auf der Flucht mit ihr in ein neues Leben. Doch unerbittlich bahnt sich ihrer beider Verhängnis an – das alte Leben fordert seine Rechte und setzt alles daran, Natu zurückzubringen an den Ort ihrer Demütigung.

In Alles wird gut nimmt Matthias Politycki seine Leserinnen und Leser mit in eine Weltregion, deren verschiedene Ethnien noch fest verwurzelt sind in ihren Traditionen. Er beschreibt den inneren Konflikt, die Ohnmacht und die Grenzen, denen man dort als Europäer ausgesetzt ist, und zeigt ein Afrika jenseits der gängigen Klischees. Davon abgesehen ist der Roman auch eine Emanzipationsgeschichte einer starken Frau und auch umgehkehrt die Emanzipationsgeschichte eines schwachen Mannes.

Der Autor gilt als großer Stilist und ist einer der vielseitigsten Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur. Sein Werk besteht aus über dreißig Büchern, darunter Romane, Erzähl- und Gedichtbände sowie vielbeachtete Sachbücher und Reisereportagen.

„Matthias Politycki zählt zu den wenigen Autoren, die über eine ganz eigene Sprache, einen unverwechselbaren Sound verfügen.“ (Denis Scheck)

„Hier erzählt einer, der das Land wirklich von innen heraus kennt. Politycki hat immer diesen eleganten, klugen, süffigen Erzählstil voller Witz und Tiefe, es ist einfach ein ganz großer Roman.“ (Radio Bremen 2)

Veranstaltungsort: Neues Schauspielhaus, Uelzen

 

Dienstag, 14. November 2023, 19.00 Uhr

 Andrea Roedig liest aus „Man kann Müttern nicht trauen“

Ihre Mutter Lilo war eine schöne Frau, Jahrgang 1938, ein Kriegskind. Ihr Vater stirbt im Russlandfeldzug, als sie vier Jahre alt ist und von ihrer Mutter erfährt sie Gewalt. Durch Heirat gelang ihr der soziale Aufstieg von der Modeverkäuferin zur Chefin einer Metzgerei. Das Unglück ist noch nicht absehbar, doch Alkohol- und Tablettenabhängigkeit prägen zunehmend das Familienleben. Als ihre Tochter zwölf Jahre alt ist und nachdem die wohlhabende Düsseldorfer Metzgerfamilie Insolvenz angemeldet hat, verlässt Lilo die Familie. Sie ist für drei Jahre verschwunden, um danach immer wieder kurz im Leben ihrer Tochter aufzutauchen. Doch der Riss lässt sich nicht mehr kitten. Eine beeindruckend klare, literarische Annäherung an eine fremde Frau, die eigene Mutter.

Mit diesem Buch bietet Andrea Roedig, Journalistin, Wissenschaftlerin, Herausgeberin, Kritikerin und Autorin, viel mehr als eine individuelle Familiengeschichte, es gelingt ihr, den Zeitgeist der 50iger und 60iger Jahre anschaulich einzufangen. Und sie bietet eine Reflexion über die verpasste Emanzipation ihrer Mutter und damit vieler Mütter dieser Zeit an. Es ist ein Balanceakt zwischen immer noch empfundenem Schmerz und mutiger, risikoreicher Selbstaufklärung und darüber hinaus ein sprechendes „Familienfoto“ der alten Bundesrepublik – und das bei hohem sprachlichen Anspruch. Die Autorin erzählt über die Schattenseiten einer Mutter-Tochter-Beziehung, denn das Buch geht gegen den Mythos einer heilen Familienwelt an, einer immer rettenden Mutter. „Es ist keine Abrechnung, es ist keine Schuldzuweisung. Ich glaube, dass Schuld, die zwischen Müttern und Kindern steht, nicht gut ist, weil sie das Reden und den Kontakt verhindert“, sagt die Autorin. Für sie selbst sei das Aufschreiben, das In-Sprache-fassen sehr hilfreich gewesen und damit schon eine Art Happy End, sie habe damit endlich loslassen können.

„Ohne Zweifel eine der bemerkenswertesten Neuerscheinungen dieses Frühjahrs“ (FAZ)

Veranstaltungsort: Neues Schauspielhaus, Uelzen