Laudatio

Laudatio auf die Preisträgerin

Von Nico Bleutge

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

zu Zsuzsanna Gahses ersten Erinnerungen gehören Knöpfe. Keine Hemdknöpfe, keine Blusenknöpfe – sondern Schrank-Knöpfe, rötlich schimmernde Knöpfe, die man eigentlich eher Knäufe nennen müsste, fanden sich diese Knöpfe doch an den Schubladen im Esszimmer der Eltern. So lässt sich vermuten,

Nico Bleutge|Foto: Folkert Frels

dass „Knopf“ bis heute zu ihren Lieblingswörtern gehört. Jedenfalls hat sie dem Knopf ein ganzes Buch geschenkt, „Klotzkopf“ heißt es, könnte aber ebenso gut „Klotzknopf“ heißen. Es ist ein Buch voller Sprachverwandlungen, und sein Anfang geht so: „Knopf ist ein schönes Wort oder auch zuknöpfen und aufknöpfen, und das Wort passt auf Deutsch zum Knopf wie eine Knospe. Button auf Englisch lässt sich auch schön aussprechen oder el botón auf Spanisch, und im Ungarischen heißt das Wort gomb, man hört im Wort, wie rund der Knopf ist.“
Man muss kein Zauberkünstler sein, noch nicht einmal ein Knopfkünstler, um zu sehen, wie wichtig Zsuzsanna Gahse die Wörter sind. Die Wörter mit ihren zahl-losen Schichten aus Bedeutungen, Rhythmen und Klängen – Schichten, die oft weit hinein in die Vergangenheit ragen. Was die Wörter können, ist weniger so etwas wie Wirklichkeit abzubilden, als vielmehr einen eigenen Raum aufzuspannen. Sie können das brave Nacheinander der Ereignisse aufbrechen und eine Gleichzeitigkeit herstellen, kleine, aufleuchtende Flecken, die sich in der Erinnerung festsetzen.
Dabei denkt Zsuzsanna Gahse das Schreiben nicht nur vom einzelnen Wort her, sondern auch vom Satz. Und Sätze können wie Flüsse sein, hat sie einmal geschrieben, sie können ruhig gleiten, sich überschlagen, ausufern, später wieder langsamer werden oder sogar verebben. Der Fluss – oder der Satz? – als eine Möglichkeit, die dauernde Bewegung, die stündliche, minütliche, sekündliche Veränderung der Dinge einzuholen, dem Zufälligen, so seltsam es auch klingen mag, eine feste Form zu geben. Eine Form jedoch, die nicht starr ist, sondern ihrerseits beweglich, die all die kleinen Regungen der Phänomene weiterhin zulässt.
Sie merken schon, Zsuzsanna Gahse hat einen wundersam zarten, ironischen Zugang zur Welt, ein gleichsam verschmitztes Verhältnis zu den Dingen. Was nicht bedeutet, sie könnte nicht auch ernstere oder härtere Register ziehen. Oft aber möchte sie in ihren Büchern die Dinge einfach nur anschauen, ohne sie mit etwas Bekanntem zu vergleichen. „Nichts ist wie“ – eines ihrer Bücher trägt diesen Gedanken sogar im Titel. Trotzdem gelingt es ihr ein ums andere Mal, Landschaften und Wörter ineinanderzuschlingen und diese Bewegung durchsichtig zu machen für das Schreiben.
„Aber schweifen wir nicht zu viel ab“, heißt es im Knöpfetext weiter. Und auch das lässt sich nur als pure Ironie verstehen. Denn Zsuzsanna Gahses Texte leben von der Abschweifung. Wäre dieser Satz nicht ein Widerspruch in sich, könnte man sogar behaupten: Sie hat die Abschweifung zum Prinzip ihres Schreibens erhoben. Oder wenigstens zu einem der Prinzipien. Voller Falten, voller Stimmen und Umwege sind ihre Texte – damit man alles immer aus mehreren Perspektiven sieht.
Und genauso wenig wie sie der Vorstellung einer klaren Linie folgen, sind ihre Texte eine „runde Angelegenheit“, wie es die Knöpfe sind oder das Auf- und Zuknöpfen. Am ehesten wirken sie wie kleine Knäuel, Wollknäuel, manchmal auch Staubfadenknäuel, Sprachknäuel auf jeden Fall. Die Gedanken laufen hier oft in verschiedene Richtungen, scheinen weder Anfang noch Ende zu haben. Über feine Wortschleifen und Bedeutungsverschiebungen verdreht sich die Rede immerzu neu – und läuft doch voran. „Kleinteilige Angelegenheiten, / wuselig, trotzdem blitzt / mitunter oder scheinbar / eine Ordnung auf“, heißt es in ihrem jüngsten Buch „Sie-benundsiebzig Geschwister“. Darin wundert sich eine der Figuren über die „Unzahl von Möglichkeiten“, die sie in der Welt vorfindet, und deutet so zugleich auf jene vielen Möglichkeiten, die wir, die Leser, in Zsuzsanna Gahses Büchern immer schon finden können.
Ihre Texte sind so raffiniert, dass sie ihre Form nicht einfach nur behaupten, sondern auch zeigen, was sie überwinden wollen. Man könnte es das traditionelle Erzählen nennen, oder, mit Zsuzsanna Gahse selbst gesprochen, die „mechanische Darstellungsweise“, Jene Art des Sprechens, die auf Wörter wie „dann“, „jedoch“ oder „während“ setzt. Diesem Vertrauen in das bloße Nacheinander setzt sie die Gleichzeitigkeit entgegen. Das Wort „erzählen“ interessiert sie nur in Maßen. Denn wenn man sich das Wort für einen Moment genauer ansieht, ist man schon beim „zählen“ angelangt, und eine Aufzählung kann für Zsuzsanna Gahse tausendmal packender sein als die schönste Narration.
So gibt es in dem erwähnten Klotzkopf-Buch einen kleinen Abschnitt, in dem das Wort „Flugentenbrust“ auftaucht. Und schon nehmen die Assoziationen ihren Lauf: „Es gibt Seeenten, Hausenten, Flugenten, Jungbrutenten, Nord- und Südenten, und wer an Ibsens Wildente beim Essen denkt, dem verschlägt es den Appetit, weil dann die Ente ein Wesen bekommt, und Wesen möchte niemand essen.“ Aber damit nicht genug. In einer Fußnote geht es gleich weiter: „Liebchen, Lähmung, Entenfett: Und das binden wir jetzt an den geflügelten Enterich. Denn der zeigt sich dann allenfalls ,lahm’, wie knapp daneben die Gans höchstens ,dumm’. ’s gibt aber nur wenig Alternativen. Beim Esel etwa wären schon zwei ins Rennen zu schicken, nämlich ,störrisch’ und ,stur’.“
Und so, wie hier die Gedanken von der Ente über die Gans zum Esel hüpfen, springen sie andernorts über die Planke und den Pulk bis zum Genick. Immer aber lassen sie uns ihre vielen Möglichkeiten sehen – so dass selbst der störrischste Lese-Esel etwas Unbekanntes erfahren kann oder wenigstens spüren, dass Wörter, „(nicht alle, aber viele)“, selbständige Geschichten sind.
Dabei kann man sich als Leser noch nicht einmal sicher sein, ob die genannte Enten-Fußnote wirklich von Zsuzsanna Gahse stammt und nicht von ihrem geschätzten Dichterkollegen Christian Steinbacher. Mit ihm zusammen hat sie das Klotzkopf-Buch nämlich geschrieben, in Form eines poetischen Dialogs. Eine solche Offenheit für andere Stimmen, eine Lust auch, sich etwas sagen und die Stimmen mit- und gegeneinander schwingen zu lassen, durchzieht alle ihre Bücher.
Das gilt ganz besonders für eines meiner Lieblingsbücher. Es heißt „Instabile Texte“.
In einem Kapitel dieses an kleinen und großen Kapiteln reichen Buches ist die Erzählerin in den Alpen unterwegs und fährt mit der Seilbahn stundenlang auf und ab. Ständig wird sie dabei „abgelenkt“, bleibt mit den Augen an Tannen und Felswänden hängen oder lauscht den Gesprächen der Mitreisenden. Und in gleicher Weise gerät der Text nach und nach in Bewegung, wird recht eigentlich „instabil“, wie es der Titel des Buches verspricht. Wer will, kann es aber auch umgekehrt sehen: Immer wieder bringt die Erzählerin ihre Sätze ins Gleichgewicht, um sie flugs aufs Neue zu verschieben und neu auszurichten. Genau das macht die „Instabilen Texte“ so anziehend: dass sie, wie die Wörter es tun, sich im Kopf des Lesers festhaken, kurz für Ordnung sorgen, sich aber bald schon wieder gegenseitig anschieben und nur auf eine instabile Situation warten, um „hintereinander vorzubrechen und alles Denken zu überfluten“.
Dieses überflutende und dann wieder ordnende Denken fährt wie die Seilbahn in den Alpen auf und ab, auf und ab, holt Menschen und Dinge, ja, sogar Tiere in seinen Rhythmus. Joe, der sprechende Pelikan, grüßt dabei hinüber zu den drei Falken aus Werner Bergengruens gleichnamiger Novelle. Einer dieser Falken wiederum könnte, wie Falken das so tun, ein Gewölle hervorwürgen, ein Gewölle, das Zsuzsanna Gahse mit ziemlicher Sicherheit als Knäuel beschreiben würde. Und die Form dieses Knäuels könnte sie zugleich an ein Kipferl erinnern, wie für sie auch die Alpen „ihrer Form nach ein Kipferl“ sind. Zum Beispiel dann, wenn man sie von oben betrachtet. Und „innerhalb der Kipferlform“, schreibt sie, „zeichnet sich eine klare Semmelform ab, das ist die Schweiz, und die Schweiz ist Europa“.
Solche Verwandlungen, die eins mit dem anderen verbinden und es zugleich schaffen, wie nebenbei eine (im guten Sinne) europäische, vielleicht auch: humanistische Tradition anklingen zu lassen, die Idee eines freien oder jedenfalls: eines freieren Denkens, rücken Zsuzsanna Gahse und den Namensgeber dieses wunderbaren Preises für Momente nah zusammen.
Die alte Dame Europa aber, mit ihren vielen Falten, Rissen und Stimmen, hat es Zsuzsanna Gahse noch auf ganz andere Weise angetan. Da ihr das Fließen so vertraut ist, hat sie sich den vielleicht fließendsten aller europäischen Flüsse vor ein paar Jahren für ein ganz besonderes Schreibprojekt ausgesucht: die Donau. Jene Donau, an der sie selbst aufgewachsen ist und die in Budapest genauso zu sehen ist wie in Belgrad oder in Wien oder in Linz. Und man weiß gar nicht, ob man bei diesen Text-inseln von Prosa sprechen soll oder von Gedichten. Eigentlich ist es auch völlig egal. Denn es sind Donauwürfel, jeder Würfel besteht aus zehn Gedichten, jedes Gedicht aus zehn Zeilen, jede Zeile aus zehn Silben. Und darin verwandelt Zsuzsanna Gahse alles in ein Gefüge aus Verwandtschaften, Klängen und kleinen Sprachspielen.
Trotz der strengen Form läuft die Rede assoziativ, mäandernd geradezu, voran. „Sekundenideen, die im Kopf / herumschwirren“, sind der innere Antrieb. So ist das Flusssystem aus Sprache zugleich ein Nervensystem. Tiere kommen darin in den Blick und Pflanzen, Steine und die Farben des Wassers, die vielen Nebenflüsse der Donau und Erinnerungen aus der Kindheit. Vor allem aber großartige Ideen. Zum Beispiel jene, man hätte an der Donau von jeher Englisch gesprochen. So lesen wir: „Aber das englische Danube bringt das // Wasser in Unruhe, zusätzliche / Wirbel entstehen, Strudel, schräg im Fluss / tauchen dicke Wasserzöpfe auf und / treiben schnell quer zum Ufer hinüber. / Die englische Donau würde sich in / ihrem Becken wälzen, sie wünschte, dass / ihr das Meer entgegenkäme, die Flut, / wie das die englischen Flüsse kennen. / Und Shakespeare wäre in Wien auf die Welt / gekommen oder am Donauknie, die // Ungarn hätten sein Englisch, sie würden / sicher waving sagen, wavend tanzen“, heißt es im Buch. Und man kann sich als Leser sehr gut vorstellen, wie noch andere englische Wörter am Ufer dieser Danube-Donau gesprochen würden, „goose“ zum Beispiel oder „button“.
Die Donau, dieses „feine Krokodil aus Wasser“, ist hier ein feines Krokodil aus Sprache. Mal staut sich die Rede wie der Fluss selbst, dann wieder muss sie strömen, zum nächsten Ufer, zum nächsten Ort. Sie kann aber auch in halben Geschichten münden, von Matrosen, von Donauschiffern, von Menschen aus Passau oder Wien. Und zwischendrin kann man sogar unversehens in Istanbul landen oder in Venedig.
Am liebsten aber und immer wieder in Budapest. Budapest, das auch in vielen anderen Büchern von Zsuzsanna Gahse in die Sprache findet. Als Stadt der Kindheit, als Stadt der Donau. Und als Stadt der Thermalbäder. Diese Thermalbäder mögen einmal sehr heruntergekommene Schönheiten gewesen sein – jetzt aber (und dieses Jetzt, von dem Zsuzsanna Gahse schreibt, ist das Jahr 2008), „jetzt aber sind sie wieder in Ordnung. Die wichtigste Thermalquelle ist in meinen Augen das große Freibad auf der Margareteninsel, wobei man die Insel die Mitte der Stadt nennen darf, schon weil sie zwischen Buda und Pest liegt, und in diesem Freibad mitten in der Stadt gab es und gibt es ein großes Becken für die Langsamkeit, ein Becken mit dampfend warmem Wasser, langsame Leute waten wie ohnmächtig und glücklich und halb gerettet durch die Wärme, während die anderen das Kalte suchen, das kalte künstliche Wellenbad, und sobald die Wellen einsetzen, hört man ein Glücksgekreische.“ So ähnlich mag es einem immer wieder beim Lesen von Zsuzsanna Gahses Büchern gehen. Nein, ihre Bücher sind keine Becken für die Langsamkeit, künstliche Wellenbäder schon eher, mit unterschiedlichen Strömungen und Temperaturen. Mal wie ohnmächtig, mal halb gerettet, immer aber glücklich fühlt man sich nach dem Lesen ganz gewiss. Und wer genau hinhört, kann aus seinem Inneren sogar kleine Kreischlaute vernehmen.
„Eine endgültige / Flussrichtung ist nicht leicht absehbar“, heißt es in den Donauwürfeln einmal. Und das möge immer so bleiben. Für ihre wechselnden Richtungen, für ihre „schweifenden Augen“, für all ihre wandernden Wörter erhält Zsuzsanna Gahse heute den Werner-Bergengruen-Preis. Ganz herzlichen Glückwunsch, liebe Zsuzsanna!