Programm des ersten Halbjahres
Donnerstag, 10. Januar 2019, 19.30 Uhr
Svenja Leiber
Foto: Stefan Klüter
Svenja Leiber liest aus „Staub“ im Gewölbekeller der Ratsweinhandlung
Die mit zahlreichen Preisen (u.a. Werner Bergengruen-Preis) ausgezeichnete Autorin Svenja Leiber verbrachte als Kind einige Zeit in Saudi-Arabien, wo ihr Vater als Arzt tätig war. Man kann wohl davon ausgehen, dass eigene Erfahrungen in diesen Roman eingeflossen sind:
Als Kind verbringt Jonas Blaum ein Jahr in Saudi-Arabien – der Vater, ein Mediziner, verfolgt in Riad seine eigenwilligen Vorstellungen von Heilung. Den Deutschen fällt es nicht leicht, sich den ungewohnten Landessitten anzupassen, und als eines Tages das jüngste Kind der Blaums spurlos verschwindet und wenig später verstört und sprachlos wieder auftaucht, kehrt die Familie überstürzt nach Deutschland zurück.
Im Sommer 2014 reist Jonas Blaum, mittlerweile selbst Arzt, suchtkrank und von Zweifeln geplagt, erneut in den Nahen Osten, diesmal nach Amman. Dort wird ihm ein Junge in Obhut gegeben, der ihn an den größten Verlust seines Lebens erinnert. Blaum kann dem Kind nicht helfen, und als er den Jungen bei einem Aufenthalt in Jerusalem verliert, ergibt sich für den Arzt ein beängstigender Verdacht.
In bedrängenden Bildern erzählt Svenja Leiber von einer individuellen Katastrophe und der einer ganzen Region. Der Wettlauf um das Leben eines Kindes wird dabei zum Sinnbild für einen doppelten Kampf: gegen die Erstarrung des Einzelnen im Korsett gesellschaftlicher Zuschreibungen, gegen die Macht symbolischer Ordnungen und überalterter Systeme.
„Der Roman ist voll mit seltsamen Augenblicken und mit Arabesken des Menschlichen. Durch sie hindurch schimmern existenzielle Fragen und die erstaunliche Klugheit eines Romans, der seinen Anspruch nicht einem oberflächlichen Realismus opfern will.“ (Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung)
Donnerstag,12. Februar 2019, 19.30 Uhr
Gert Loschütz liest aus „Ein schönes Paar“ im Gewölbekeller der Ratsweinhandlung
Gert Loschütz
Foto: Bogenberger
Beim Ausräumen seines Elternhauses stößt der Fotograf Philipp auf einen Gegenstand, der in der Geschichte seiner Eltern eine entscheidende Rolle gespielt hat. Die beiden, Herta und Georg, waren ein schönes Paar, ihr gemeinsames Leben beginnt vor dem Krieg in Plothow, Brandenburg. Philipp berichtet über das Schicksal seiner Eltern aus seiner Sohn-Perspektive, als Ich-Erzähler, und er will sie verstehen, sich in sie hineinversetzen: ihr junges Liebesglück, ihre Hoffnungen und Gefährdungen, die überstürzte Flucht seines Vaters aus der DDR in den Westen. Das hätte, da ihm Herta und der Junge ein paar Tage später folgten, der Beginn eines erfüllten Lebens sein können, tatsächlich aber trug die Flucht den Keim des Unglücks in sich. Nach und nach geht Philipp das Paradoxe der elterlichen Beziehung auf: Dass es die Liebe war, die ihre Liebe zerstörte. Damit aber ist die Geschichte, die auch sein Leben überschattet hat, nicht vorbei. Am Ende stellt er fest, dass Herta und Georg all die Jahre über miteinander verbunden waren, auf eine Weise, die sie niemandem, nicht einmal sich selbst, eingestehen konnten.
Der Leser erlebt in vielen unendlich behutsamen und detailreichen Schilderungen die Höhen und Tiefen, Sicherheiten und Brüche dieser Liebe mit. In allen Rezensionen wird die ästhetische Qualität dieses Romans hervorgehoben: „In diesem Buch gibt es nichts, was nicht aus gutem Grund dort steht, wo es steht. Das Nichtexplizite ist ein Ausdruck literarischer Eleganz und Intelligenz.“ (Christoph Schröder, Zeit online)
Mittwoch, 20. März 2019, 19.30 Uhr
Ulla Lachauer liest aus „Von Bienen und Menschen“ im Gewölbekeller der Ratsweinhandlung
Bienen sind besondere Wesen. Wie sie leben, wie wir Menschen mit ihnen umgehen – das ist ein Seismograph für den Zustand unserer Welt. Alle reden heute von Bienen. Wer aber sind die Imker? Ulla Lachauer, für ihre Reportagen über Osteuropa viel gerühmt und preisgekrönt, hat Imker in verschiedenen Regionen Europas besucht – von der Ostseeinsel Gotland über die Lüneburger Heide bis in den Schwarzwald, von den französischen Pyrenäen über Kärnten bis an die slowenische Adriaküste, vom böhmischen Isergebirge bis in die russische Exklave Kaliningrad.
Vierzehn Porträts passionierter Imker – alt und jung, auf dem Land und in der Stadt. Bewegende Geschichten: vom „Bienenkönig“ in Ljubljana, von einem imkernden Lokführer, der Geschichte macht, oder einem Syrer, der vor dem Krieg in seiner Heimat fünfhundert Bienenvölker hielt und jetzt in Deutschland einen Neuanfang wagt. Dabei geht es um grundlegende Fragen: In was für einer Beziehung stehen der Mensch und das Bienenvolk? Machen Bienen glücklich? Welche Rolle spielen Bienen in Notzeiten und Krieg? Warum und auf welche Weise werden regionale Bienenrassen verdrängt? Wie reagieren Imker auf die Bedrohung durch die moderne Agrarindustrie und andere globale Herausforderungen, etwa die gefürchtete Varroamilbe? Was können uns Imker aufgrund ihrer besonderen Erfahrung über Natur und Gesellschaft erzählen? Über europäische Befindlichkeiten und Träume?
Ulla Lachauer nimmt die Leserinnen und Leser auf eine spannende, vielschichtige Entdeckungsreise mit.
„Ein ausgesprochen lesenswertes, sehr sehr gut geschriebenes Buch, das mich sofort alle anderen Bienenbücher hat beiseite legen lassen.“ (Rainer Moritz, Literaturhaus Hamburg im NDR)
Dienstag, 16. April 2019, 19.30 Uhr
Gerhard Henschel. Foto: Hoffmann&Campe
Gerhard Henschel liest aus „Erfolgsroman“ im Gewölbekeller der Ratsweinhandlung
Nach gut vier Jahren als Hilfsarbeiter kann Martin Schlosser Anfang der neunziger Jahre optimistisch in die Zukunft blicken: Er findet immer mehr Abnehmer für seine Glossen, Satiren und Reportagen und ist endlich in der Lage, seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller zu bestreiten. Den Kellnerjob in einer der verrufensten Discotheken des Jeverlandes übernimmt er jetzt nur noch zum Spaß nebenbei. Schwierig gestalten sich allerdings die Besuche bei seinem verwitweten Vater in Meppen, der mit aller Welt zerstritten ist. Und auch mit den Frauen ist es nicht so einfach, wie Martin es gern hätte. Doch er wird nicht müde, dem Schicksal etwas nachzuhelfen, und ab und zu hat er damit sogar Erfolg. Das Leben ist voller Abenteuer und führt ihn u. a. zu einem Tantra-Workshop auf einem münster-ländischen Bauernhof, zu einem Jonglierfestival in Oldenburg, in die schönsten Antiquariate Londons und – einer neuen Liebe wegen – nach Regensburg, aber auch zu einem haarsträubenden Atheisten-Kongreß in Fulda und immer wieder nach Berlin, wo er Freundschaft mit den Kollegen Wiglaf Droste und Max Goldt schließt und sich ins Nachtleben stürzt.
Als Gerhard Henschel 2013 mit dem Nicolas-Born-Preis ausgezeichnet wurde, attestierte ihm die Jury, wie eindrucksvoll er ein „facettenreiches Bild unserer Gesellschaft im Auf- und Umbruch“ zu schildern vermöge, zugleich zum Nachdenken anregend, amüsant und fesselnd. „Erfolgsroman“ war Buch des Monats September beim NDR.
„Es gibt hierzulande keinen Autor, der mit derartiger Konsequenz für seine Generation das schreibt, was Walter Kempowski für seine Generation mit der ‚Deutschen Chronik’ vorgelegt hat.“ (Knut Cordsen, Deutschlandfunk Kultur)
Programm des zweiten Halbjahres
Mittwoch, 4. September 2019, 19.30 Uhr
Martin Mosebach
Foto: Hagen Schnauss
Martin Mosebach liest aus Mogador und Westend im Gewölbekeller der Ratsweinhandlung
Martin Mosebach verfasste bisher elf Romane, dazu Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays über Kunst und Literatur, über Reisen, über religiöse, historische und politische Themen. Dafür hat er zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten, etwa den Heinrich-von-Kleist-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Georg-Büchner-Preis und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt.
In Uelzen wird der Autor aus seinem Roman Mogador und seinem neu aufgelegten Roman Westend lesen.
In Mogador, der ebenso Kriminalfall wie Seelenreise ist, stehen wie immer bei diesem Autor die Schilderungen der menschlichen Befindlichkeiten im Vordergrund. Der Protagonist dieses Romans ist der junge, auf der Karriereleiter seiner Bank schon ziemlich hoch hinaufgelangte Patrick Elff, der nun vor Gericht steht, weil er betrogen hat. Während des Verhörs springt er aus dem Fenster – und das ist der Beginn einer gefährlichen Reise. Er sucht Hilfe bei einem mächtigen marokkanischen Finanzmann, der ihm noch einen Gefallen schuldet, und flieht nach Essaouira, dem alten Mogador. Hier lernt er Schrecken kennen, die die irdischen Strafen weit übersteigen….
Im Geist der großen europäischen Gesellschaftsromane ist in Westend „einem der bedeutendsten Gesellschaftsromane der deutschen Literatur“ (Die Zeit) der eigentliche Gegenstand die Stadt Frankfurt mit ihren Bürgern aller Schichten. Eine ganze Epoche deutscher Nachkriegsgeschichte wird im Schicksal der Figuren lebendig: Spekulanten und Kunsthändler, Müllsammler, Hausmeister und Putzfrauen, die letzten Vertreter Altfrankfurter Bürgerlichkeit und ein jugendliches Liebespaar, das an den Sünden der Väter trägt und sie zu überwinden lernt. Ein fulminantes Epos über die Verwandlung einer städtischen Gesellschaft in den Aufbaujahren der Bundesrepublik – und ein Hauptwerk Martin Mosebachs, das jetzt als Neuausgabe wiederrzuentdecken ist.
Mittwoch, 9. Oktober 2019, 1930 Uhr
Arno Schmidt
Copyright: Arno Schmidt-Stiftung
Bernd Rauschenbach liest von und berichtet über Arno Schmidt/ Axel Kahrs moderiert im Gewölbekeller der Ratsweinhandlung
Walter Kempowski fand ihn „unglaublich jung und frisch“, Walter Jens war von ihm „entzückt und ergriffen“, Günter Grass befand: „Wir haben alle von ihm gelernt“. – Der Schriftsteller Arno Schmidt (1914-1979), ein gebürtiger Hamburger, zählt zu den ganz Großen der deutschen Literatur. Nach ungewollten Lehr- und Wanderjahren, verursacht durch Krieg und Flucht, fand Schmidt in dem kleinen Dörfchen Bargfeld nördlich von Celle seine neue Heimat, hier schrieb er in tiefer Abgeschiedenheit, umgeben von zahllosen Büchern, seine vielseitigen Werke, darunter das berühmte Großbuch Zettels Traum. Es sind Erzählungen voller deutscher Geschichte und Gegenwart, durchzogen von Utopien und lange vergessenen Ereignissen, geschrieben in einer eigenwilligen Sprache, die Komik und Kreativität verbindet, hervorragend zum Vortragen geeignet.
Das wird Bernd Rauschenbach im Rahmen der Wein-Geister-Lesung beweisen, wenn er Schmidts TINA oder über die Unsterblichkeit vorträgt, eine bissige, aber auch befreiende Erzählung über Dichter und die Ewigkeit, das Schreiben und die Nachwelt. Rauschenbach ist der anerkannt beste Kenner des Schmidtschen Werkes, Herausgeber der Gesamtausgabe, Kommentator, Ausstellungskurator und lange Jahre Leiter der von Jan Philipp Reemtsma geschaffenen Arno Schmidt Stiftung in Bargfeld. Dort hatte Bernd Rauschenbach den Dichter noch persönlich kennen gelernt und ihm zugearbeitet. Darüber wird der Moderator Axel Kahrs, u.a. bekannt als Leiter des Künstlerstipendiatenstätte Schreyahn und Autor diverser Literaturführer, mit ihm nach der Lesung sprechen.
Freitag, 8. November 2019, 19.30 Uhr
Michael Martens
Foto: Leonhard Hilzensauer
Michael Martens liest aus: Im Brand der Welten – Ivo Andrić: Ein europäisches Leben. Im Gewölbekeller der Ratsweinhandlung
„Für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet“ wurde Ivo Andrić 1961 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. Ein Schriftsteller, der als Diplomat mit Hitler Geburtstag feiert, mit Göring über Waffenlieferungen verhandelt, als Gast Stalins nach Moskau reist und nachts Weltliteratur verfasst – selten hat es ein bemerkenswerteres Dichterleben gegeben. Michael Martens zeigt in seiner meisterlich geschriebenen Biografie einen außergewöhnlichen Lebensweg und die intellektuelle Entwicklung eines großen europäischen Schriftstellers auf: er führt von der Kindheit in Bosnien über das Attentat von Sarajevo 1914 bis zu Andrićs Zeit als Gesandter des Königreichs Jugoslawien in Hitlers Berlin. Diesen bewegten Zeiten folgen Jahre im von den Deutschen okkupierten Belgrad, als Andrić in völliger Zurückgezogenheit die großen Romane schreibt, die ihm Weltruhm einbringen werden. Martens bettet seine Schilderungen in ein beeindruckendes Panorama der europäischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Michael Martens, Jahrgang 1973, lebte von 1995 bis 2000 in St. Petersburg, Kiew und anderen Städten Osteuropas. Seit 2002 ist er politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er verbrachte sieben Jahre in Belgrad, sechs in Istanbul, drei in Athen. Seit 2019 lebt er in Wien. Vor sieben Jahren las er bei den Wein-Geistern aus seinem Roman Heldensuche. Die Geschichte des Soldaten, der nicht töten wollte.
Mittwoch, 4. Dezember 2019, 19.30 Uhr
Thomas Stangl
Foto: Jessica Schäfer
Thomas Stangl liest aus: Die Geschichte des Körpers – in der Gertruden-Kapelle
Thomas Stangl, 1966 in Wien geboren, erhielt für seine Romane, Erzählungen und Essays zahlreiche Literaturpreise. In Uelzen wird er aus Die Geschichte des Körpers lesen, das im Mai dieses Jahres erschienen ist. Aus diesem Grund lag bei Abfassung dieser Ankündigung noch kein ausführlicher Pressetext vor. Nur soviel: Eine Gruppe in einer Kleinstadt Gestrandeter wartet jeden Abend auf die Monster; ein Marquis kann Wirklichkeit und Traum nicht unterscheiden; von einem seltsamen Brauch wird weiterhin nicht abgelassen; ein Zivildiener erzählt von seiner Arbeit mit Demenzkranken – in Thomas Stangls Erzählungen geht es um absurde, surreale Begebenheiten, mitunter um Leben und Tod, aber auch ironische Betrachtungen mischen sich unter, wie beispielsweise Collagen von Fernsehserien der Neunziger Jahre.
In diesem Jahr wurde Stangl mit dem Wortmeldungen-Literaturpreis 2019 geehrt, ebenso mit der Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung.