Meine sehr verehrten Damen und Herren,
In unserem Dresdner Bücherschrank befand sich kein Buch von Werner Bergengruen. Und auch als ich vor einem Jahr das letzte Mal in Uelzen gewesen bin, hatte ich immer noch nichts von Bergengruen gelesen, zu dem ich aber fortan – Dank Ihrer Entscheidung – eine Art familiäres Verhältnis unterhalten werde. Meine Schwiegermutter, eine kämpferische fränkische Katholikin von 92 Jahren, die ich zu meinen besten Leserinnen zähle, rief, nach Bergengruen gefragt, enthusiastisch: „Das war doch einer von uns! Einer, der dagegen war!“ Sie meinte den Hitlergegner und berief sich dabei auf Werner Bergengruens wohl berühmtesten Roman „Der Großtyrann und das Gericht“. Ich werde jetzt nicht darüber mutmaßen, in welcher Hinsicht dieser Roman in jener Zeit kritisch gelesen werden konnte. Bis auf wenige Ausnahmen kann man die Bücher von Bergengruen heute fast nur noch auf antiquarischem Wege erwerben. Immerhin konnte ich mir so ein signiertes Exemplar des „Großtyrannen“ erwerben. Da ich nun ein Buch in der Hand halten darf, das dessen Autor selbst einmal in Händen gehalten haben muss, kommt es mir so vor, als könnte ich mich auch bei ihm für diesen Preis per Handschlag bedanken.
Wäre er über mich als Preisträger erfreut gewesen? Hätte er etwas mit meinen Büchern anfangen können? Worüber hätten wir uns unterhalten?
Was mich am Werk von Werner Bergengruen interessiert und auch fasziniert, ist sein Festhalten an der Fabel, an der Legende, an der Erzählung, an der Schilderung des Nacheinanders. Als Leser versuche ich mich so weit wie möglich umzutun, als Schreiber kann ich mir nicht vorstellen, auf dieses „Nacheinander“ zu verzichten. Die entscheidende und nicht ganz neue Frage dabei ist: Wie ist es heute überhaupt noch möglich, eine Fabel, Legende, Erzählung zu schreiben, die unserer Welt gerecht wird? Denn Schreiben bedeutet immer eine Vergegenwärtigung von Erfahrungen sowohl zeitlicher wie räumlicher Art. Und mehr denn je sind wir gleichzeitig mit vielen Wahrheiten und Propheten konfrontiert, die uns von vornherein skeptisch gegenüber ungebrochenen Erzählungen haben werden lassen. In der Literatur, könnte man sagen, war das beinah schon immer so, spätestens aber seit dem „Tristram Shandy“, allerspätestens seit gut hundert Jahren, als die Moderne diese Erfahrung gestaltete.
Andererseits ließe sich fragen: Kommen wir ohne Erzählungen überhaupt aus? Braucht nicht jeder Mensch Erzählungen, ganz gleich, ob er sie sich aus der Bibel, der Boulevardpresse, dem Kino oder der deutschen Literatur holt? Die Folgen allerdings sind vermutlich nicht „ganz gleich“.
Wenn ich mir das, was ich in der Zwischenzeit von Bergengruens Werk gelesen habe, vor Augen führe, so glaube ich, bei ihm ein Urvertrauen in das Erzählen immer mitlesen zu können, ein Urvertrauen aber auch in den Schöpfer. In Bergengruens literarischer Welt sind Wunder nichts, das ironisiert oder angezweifelt wird. Im Gegenteil, sie haben ihren festen Platz unter oder gar über allen irdischen Notwendigkeiten, wie beispielsweise in „Die Feuerprobe“. Für einen Gläubigen finde ich das konsequent.
Ich weiß nicht, ob ich es wagen würde, Werner Bergengruen nach seinem Verhältnis von Glauben und Schreiben zu fragen. Denn selbst mit langjährigen guten Freunden spreche ich, wenn überhaupt, nur äußerst selten darüber.
Ich habe früh, Bergengruen würde vielleicht einwenden, zu früh, also auf pubertärem Niveau, Glauben und Schreiben als Gegensatz wahrgenommen. Und so ist es bei mir bis heute geblieben.
Ich bin christlich erzogen worden, vor dem Einschlafen wurde gebetet, mit 13 oder 14 entdeckte ich bewusst den christlichen Glauben für mich, mit 16 überlegte ich eine Zeit lang, ob ich Pfarrer werden sollte, mit 17 gab ich den Glauben aus der Hand, ich verließ ihn, was schmerzhaft war, weil ich damit auch auf die Hoffnung auf ein ewiges Leben und auf eine Instanz von letztendlicher Gerechtigkeit verzichtete, ich könnte auch sagen, ich handelte mir eine endgültige Sterblichkeit ein wie auch die Einsamkeit jenseits von menschlichen Beziehungen. Dieser Verlust stülpte mein Dasein um. Der einzige Lichtblick in diesem Desaster war, dass ich mich frei fühlte, nichts mehr a priori gut oder schlecht finden zu müssen, und mich von allen Aufträgen entbunden glaubte. Das machte meine Schreibversuche keinesfalls besser, aber es stand nichts mehr zwischen mir und der Welt, oder über mir und der Welt.
Sollte ich mein Schreiben zu definieren versuchen, so wäre eine grundsätzliche Feststellung, dass es ein Schreiben ohne Fixpunkt ist. Alles ist Beziehung und Kontext. Der Ort, von dem aus ich erzähle, steht stets im gleichen Maße in Frage wie alles, worüber ich erzähle. Ich selbst, wie der Erzähler, stehe deshalb auch immer in Frage.
Wie aber erzählt man eine Geschichte, deren Erzähler man vertrauen und im selben Maße auch misstrauen kann und soll? Wie bewahre ich das Erzählen vor der Eindeutigkeit, wie vor der Beliebigkeit?
Mein Bestreben geht dahin, die Voraussetzungen, Bedingungen, Interessen, Wünsche, Zwecke des Erzählers oder der Erzählerin kenntlich werden zu lassen. Die Geschichte wird so zu einer Geschichte.
Wer über einen Fixpunkt verfügt, könnte das als Schwäche auslegen und abtun, wer darüber hinaus den Anspruch erhebt, zu wissen, wie die Welt glücklich zu werden hat, und solche Leute haben immer einen Fixpunkt, könnte diese Haltung als Indifferenz verdammen und bekämpfen.
Für mich aber beginnt das Glück des Schreibens spätestens dann, wenn es mir – aus glückhaft-zufälligen Gründen – gelungen zu sein scheint, etwas im Nacheinander des Erzählens in Gang zu setzen, dessen Logik ich nun nach bestem Wissen und Gewissen zu folgen habe, die zugleich jener räumlichen und zeitlichen Vergegenwärtigung in den Köpfen der Leser standhält. Ich bin niemand, der eine Konstruktion vornimmt, um sie dann auszufüllen. Eher befolge ich eine Art Spielidee, aus der im Idealfall die notwendigen Handlungen der Figuren folgen. Ich könnte auch sagen, ich rudere und segle nach Maßgabe der Strömungen und Winde und halte Ausschau, ob Land in Sicht kommt, ich suche nach einer Möglichkeit, trockenen Fußes an den Kai oder den Strand zu springen, also die Klippen zu vermeiden, an denen ich alles verlieren würde.
Auf diese Art und Weise hoffe ich am ehesten den eigenen Beschränktheiten und Vorurteilen zu entkommen und das Schreiben auch als Erkenntnisgewinn für mich selbst zu nutzen.
Da ich mir Werner Bergengruen als interessierten, geduldigen und höflichen Kollegen vorstelle, würde ich ihm von meiner Arbeit am jüngsten Manuskript erzählen, mit dem ich noch über beide Ohren im Lektorat stecke. Wie würde er reagieren, wenn ich ihn nach seinem um zwei Jahre jüngeren Kollegen Joseph Roth fragte, diesem anderen Legendenerzähler. Denn mein Ausgangspunkt war Joseph Roths „Leviathan“, auf den mich vor knapp zwei Jahren Judith Schalansky nachdrücklich hingewiesen hatte, diese legendenhafte Erzählung von 71 Seiten – so zumindest in der ersten Ausgabe von 1940, posthum erschienen im Querido-Verlag in Amsterdam. Unter anderem faszinierte mich, wie Roth legendenartig über seine eigene Zeit schreibt, was mir so vorkam, als drehte er ein Fernrohr um. Die Legende, so meine Wahrnehmung, erhöht die Distanz zum Geschehen, entrückt sie unserem Alltag, macht sie beispielhafter und deutlicher. Zwar scheint die jüdische Welt im zaristischen Galizien aus heutiger Sicht naheliegender mit der Legende fassbar zu sein als unser Alltag, aber der Korallenhändler Nissen Piczenik macht sich auf in die moderne Welt Odessas kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Und auch in seiner Kleinstadt wird der Konkurrenzkampf technologisch geführt, also mit makellosen synthetischen Korallen.
Auch ich wollte mein Fernrohr umgekehrt auf die von mir erlebte Zeit richten, um die Linien, die sich in ihr womöglich erkennen lassen, deutlicher nachzeichnen zu können. Die Korallen allerdings waren unwiederbringlich vergeben, und ein besseres Äquivalent als Bücher ist mir nicht eingefallen. Also begann ich die Geschichte des berühmten Antiquars Norbert Paulini aus Dresden-Blasewitz zu schreiben, einer Gegend, die mir als Schüler der „Erweiterten Oberschule Kreuzschule“ über vier Jahre hinweg das Zentrum der Welt bedeutete. Ich war froh, über eine Idee und einen Anfang und einen Tonfall zu verfügen. Und wie bei Roth sollte auch in meiner Legende ein Erzähler auftauchen, der unaufdringlich dann und wann kommentiert. Doch mein Erzähler, einmal aufgetaucht, ließ sich nicht mehr zähmen.
Es stellte sich zunehmend die Frage, wer sich hinter diesem Erzähler-„Ich“ eigentlich verbirgt? Ignorieren konnte ich es nicht mehr, ich konnte es nur streichen oder musste mich ihm stellen. Verzichten wollte ich letztlich auf diesen Erzähler nicht, weil es den Verlust einer vagen Ambivalenz bedeutet hätte. Nach dieser Entscheidung tauchte der Erzähler auf wie ein U-Boot, von dem nur das Periskop sichtbar gewesen war. Oder sollte ich sagen, er tauchte auf wie ein Wal, wie ein Leviathan? Anfangs, das sei noch vermerkt, war es sogar eine Erzählerin. Ich akzeptierte seine Präsenz, und siehe da, ich kam mit meiner Geschichte desto besser voran, je mehr ich ihm das Erzählen übertrug, das heißt: Je genauer mir diese Person vor Augen trat – ich habe sie letztlich, ganz am Ende, nur mit einem t im Namen von mir zu unterscheiden gewusst –, desto sicherer wurde ich im Tonfall, desto riskanter wurde aber das Erzählen auch. Denn nun erzählte er und verfügte über andere Möglichkeiten und andere Beschränkungen als ich. Zugleich las ich Nabokovs „Pnin“ (und hörte ihn vorgelesen von Ulrich Matthes), nicht ganz zufällig, wie Sie vermuten werden. Nabokov ist auch so ein früh Vertriebener, sieben Jahre jünger als Bergengruen. In „Pnin“ taucht der Erzähler immer wieder auf – und übernimmt schließlich das letzte der sieben Kapitel als Ich-Erzähler. Und siehe da, plötzlich steht dieser Pnin als eine ganz andere Figur vor uns als jener, den man uns bisher beschrieben hat. Sollte ich meinem Erzähler nicht auch gestatten, das letzte Kapitel zu sprechen? War das nicht sogar notwendig geworden, um klarzumachen, wer hier überhaupt erzählt hat, wessen Logik ich überhaupt gefolgt war? Er kam nicht darum herum, die Verantwortung für das bisher Erzählte zu übernehmen. Kaum hatte ich das dem Erzähler-Ich gestattet, war von einer Liebesbeziehung die Rede, die ihn vollkommen okkupierte und seine Sicht beeinflusste. Am Ende steht jener Schriftsteller Schultze dem Antiquar gegenüber, der nichts mehr mit jenem gemein zu haben scheint, den mein Erzähler als auch ich anfangs im Sinn gehabt hatten. Dieser Antiquar verrät die Bücher und Schlimmeres. Er war, wenn ich meinem Erzähler Glauben schenken durfte, sogar zu einer Gefahr für die Gesellschaft geworden. Ein gewisser Zweifel an dieser Version erschien mir jedoch insofern begründet, weil der Antiquar Paulini eben auch ein Nebenbuhler des Erzählers geworden war, weshalb dieser durchaus daran interessiert gewesen sein könnte, Paulini in ein schlechtes Licht zu rücken.
Ich wollte endlich ans Ende kommen, endlich an Land gehen. Aber was ich sah, waren nur unbewohnte Eilande. Mit anderen Worten, ich konnte meinem Erzähler nicht das letzte Wort überlassen. So wie der Erzähler aus dem Erzählten aufgetaucht war, war nun, da er erzählte, zugleich ein Adressat seiner Erzählung sichtbar geworden, jemand, an den er sich wandte. Man spricht sich nicht in den leeren Raum aus, man braucht ein Gegenüber, das zuhört. Nun aber ermächtigte ich diesen Zuhörer oder diese Zuhörerin, einen dritten Teil zu schreiben, in dem vom Tod Paulinis und der zwischen ihm und dem Erzähler stehenden Frau die Rede ist.
Wer kann das Manuskript eines Schriftstellers kennen und wem kann er seine Geschichte in der Ich-Form erzählt haben? Wer ist also vertraut mit ihm und ihm zugleich wohlgesonnen? Ich sah viele Klippen vor mir. Endlich aber geriet ich durch die unschätzbare und unentwegt Ideen-verschenkende Hilfe meines Freundes und Kollegen Thomas Fritz und der stets kritisch-praktischen Begleitung meiner leibhaftigen Lektorin Petra Gropp an Land, indem ich eine Lektorin auf die Bühne rief, die schon die ganze Zeit, wie mir nun klar wurde, in den Kulissen gewartet hatte. Sie hatte meinem Erzähler schon die ganze Zeit gelauscht, ihr hatte er seine Geschichte erzählt, ihr lag das vorläufige Manuskript vor. Sie aber beschlich ein Verdacht, den sie am liebsten unterdrückt hätte – und der deshalb umso schwerer wog, da sie diesem Verdacht nachgab und nun selbst zu recherchieren begann. Dabei trifft sie auf den Nachfolger Paulinis, eine Figur, von der schon der Erzähler Schultze berichtet hat. Diese Figur, einen Verteidiger und Bewahrer der Bücher, bekam ich aus dem Roman „Der Trost des Nachthimmels“ und im Einvernehmen mit dessen Schöpfer Dževad Karahasan geschenkt oder ausgeliehen. Dzevad erlaubte mir, Juso Podžan Livnjak, gebürtig aus Livno, der nach Norwegen hatte emigrieren müssen, nach Deutschland weiter reisen zu lassen und ihn, hoffentlich langfristig, in der Sächsischen Schweiz anzusiedeln. Ohne diesen Juso Podžan Livnjak und seine Frau Fadila wäre ich ratlos gewesen. Ob und wie er sich mit der Lektorin verbündet gegen jene, die nicht nur im Verdacht stehen, die Bücher zu verraten, entscheidet sich nicht mehr in diesem Manuskript. Ich war froh, bei der ersten Gelegenheit an Land zu springen, und alles andere den Köpfen und Herzen derjenigen zu überantworten, die diese Geschichte hoffentlich lesen werden, wenn sie einmal zum Buch geworden sein wird.
Es ist nicht schlimm, wenn Sie von dem Erzählten nur die Hälfte oder weniger verstanden haben. Ich habe Ihnen das nicht aus Gründen der Werbung für mein nächstes Produkt anvertraut, sondern wollte Ihnen an einem Beispiel darstellen, wie sich der Versuch, eine Legende zu schreiben, entwickelt hat. Um diese Legende in unserem Hier und Jetzt halten zu können, erschien es mir notwendig, sie in ein Gebilde einzubetten, das ich mir zuvor nicht hätte ausdenken können und das nun nicht ganz zu Unrecht den Allerweltsnamen „Roman“ trägt.
Würde Bergengruen so ein Vorgehen gutheißen? Würde er mich nicht zu mehr Disziplin ermahnen, zu mehr Vertrauen in das, was ich mir vorgenommen hatte, zu mehr erzählerischem Selbstbewusstsein?
Ich würde dagegen halten und behaupten, dass derartige Unwägbarkeiten und Turbulenzen für mich der Versuch sind, die eigenen Beschränktheiten und Vorurteile zu überwinden, mich selbst führen zu lassen. Und das hat alles höchst wahrscheinlich mit jenem fehlenden Fixpunkt zu tun, mit der Infragestellung jeglichen Standpunkts, also letztlich mit dessen Einbettung in ein Beziehungsgeflecht, das unser Leben ausmacht. So wie ihn wohl meine stets zu mehr Ambivalenz verführbare Schreibhaltung irritieren könnte, so bin ich von seinem Werk gerade an jenen Stellen fasziniert, wo Werner Bergengruen die Eindeutigkeit der Fabel, die in sich durchaus höchst differenziert sein kann, um nicht zu sagen, raffiniert, nicht gerade aufgibt, sich aber von seiner Fabulierlust forttragen lässt, wie man sie beispielhaft in den Erzählungen der Sammlung „Der Tod von Reval“ erleben kann. Da ihm der Tod zum Fixpunkt und Leitmotiv wird, eröffnet sich ein schier unendlicher Raum für Geschichten, die von größter Lebensfülle und ohne Leitplanken sind. Davon ließe sich nun trefflich schwärmen, hätte mir nicht Werner Bergengruen eine Novelle in die Hand gedrückt, die den Titel „Die Sterntaler“ trägt und zuerst 1953 erschienen ist. Ich war deshalb so elektrisiert, weil Sterntaler, jenes Märchen der Brüder Grimm, in meinem vor zwei Jahren erschienen Roman „Peter Holtz“ zu einem wichtigen Motiv wird, wie überhaupt das Geld eine Art zweite Hauptfigur darstellt.
Werner Bergengruen fragt in der Mitte seiner Novelle: „Warum wird eigentlich diese Geschichte erzählt? Aus keinem anderen Grunde, als weil es an der Zeit ist, daß endlich einmal Klarheit über das Wesen des Geldes geschaffen werde.“
So selbstbewusst, sagte ich ihm, hätte ich meine Unternehmung nicht bezeichnet, aber im Wunsch, dies zu versuchen, würde ich mit ihm übereinstimmen. Ich will und kann Ihnen jetzt nicht die ganze Novelle nacherzählen, aber sie spielt 1930 im Berliner Wedding, in der Afrikanischen Straße und am Kilimandscharoplatz und in der Togostraße. Ein Päckchen von 12.000 Mark, das eine bettlegerische kranke Frau plötzlich hervorkramt (wir werden nie erfahren, woher es kommt), hält ihr Mann zunächst für wertloses Inflationsgeld, merkt aber bald schon, dass er damit zu seiner freudigen Überraschung alles kaufen kann, was er begehrt. Statt einen berühmten Arzt mit dem Geld zu seiner Frau zu holen, gibt er sich seinen bescheidenen Ansprüchen hin. In der Seligkeit des Alkoholrauschs verliert er zudem das Paket. Gefunden wird es von Herrn Gottscheu. Dessen sich schnell hebender Lebensstandard ruft umgehend Neider auf den Plan – und die Polizei. Es kommt zur Gerichtsverhandlung, weil Herr Lankwoski, also jener Mann, der das Geld verloren hat, Anzeige erstattet hatte. Erst glaubt Lankowski, nun gehe es ihm selbst an den Kragen. Erleichtert darf er aber schließlich feststellen, dass er das verlorene Geld zurückbeerält und seinen Lebensabend obendrein fürsorglichst betreut von der Familie Gottscheu verleben darf, die nur auf Bewährung verurteilt wurde. Die Gottscheus verwalten Lankowskis Geld, bis er bald darauf stirbt. Der Erzähler merkt an: „Übrigens war, was von der Familie Gottscheu fünfzehn Jahre später noch sein Leben hatte, ärmer als der Opa (Lankowski – I. S.) in seinen schlimmsten Zeiten gewesen war. Eine zusätzliche Bemerkung über die Verhältnisse der Gottscheus nach abermals anderthalb Jahrzehnten, also zu Anfang der sechziger Jahre, mag einem späteren Chronisten vorbehalten sein.“
Mir, zu Beginn der sechziger Jahre geboren, hat man auch das Sterntalermärchen erzählt.
In meiner Peter-Holtz-Version wird die Abbildung von Sterntaler auf dem 1000-D-Mark-Schein der Bundesbank für Peter Holtz zum Anlass, deren Geschichte weiterzuspinnen. Was geschieht, wenn das freigiebige Kind Sterntaler mit all den Sterntalern wieder aus dem Wald herauskommt und jene, die Sterntaler schon zuvor um ein Stück Kleidung gebeten hatten, es nun um Geld bitten. Sterntaler wird das Märchen einer Inflation, einer Entwertung von allem. Die Schuld gibt man Sterntaler. Es ist so schwer, klagt Peter Holtz, sein Geld mit Anstand loszuwerden, was nicht zuletzt auch auf die Lieferketten verweist, die heute die ökonomischen Adern unserer Welt sind.
Ich hätte Werner Bergengruen gern gefragt, warum er 1952/53 explizit über das Geld schreiben wollte. In dem Auf und Ab von Inflation, Erholung, NS-Diktatur, Krieg, Nachkrieg scheint sich auch in Sachen Geld das Rad der Fortuna zu drehen oder, ohne dass es ausgesprochen wird, jedoch durch Sterntaler nahegelegt, ein göttlicher Wille. Gern aber hätte ich Bergengruen gefragt, warum er seine Novelle ausgerechnet im „Afrikanischen Viertel“ angesiedelt hat.
Obwohl Deutschland nach 1918 nur noch Lauben-Kolonien besaß, wie der Erzähler bemerkt, wird dem heutigen Leser die geografisch mit Afrika-Assoziationen unterlegte Novelle zum doppelten Boden, wenn nicht gar zum Menetekel.
Schließlich stellen Sie mich durch die 5000 Euro Preisgeld indirekt vor die Frage, wie ich mein Geld mit Anstand wieder loszuwerden gedenke. Darauf habe ich noch keine Antwort. Aber über diese und andere Fragen würde ich gern mit Werner Bergengruen sprechen wie auch darüber, was das nun eigentlich mit dem 9. November heute und vor dreißig Jahren zu tun hat.