Werner Bergengruen-Preis 2011 an Peter Kurzeck
Für seinen gigantischen Versuch, in einem auf zwölf Bände angelegten Romanzyklus „das alte Jahrhundert“ nachzuerzählen und dabei gewissermaßen sein Erzählen mitzuerzählen, ein Versuch, der bis zum fünften Band, dem 2011 erschienenen, über 1000seitigen Roman „Vorabend“, wunderbar geglückt ist, erhält Peter Kurzeck den Werner-Bergengruen-Preis 2011.
„Eine Welt ohne Kurzeck ist, nachdem man ihn kennt, nicht mehr denkbar. Die Welt bekommt seinen Ton“, urteilt Kurzecks Schriftstellerkollege Andreas Maier.
Laudatio Peter Kurzeck von Wend Kässens
Identitätssuche im Fluss der Zeit
Laudatio auf den 2. Träger des Werner-Bergengruen-Preises Peter Kurzeck
Von Wend Kässens
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Peter Kurzeck!
Lassen Sie mich meine Laudatio mit einem Zitat von Peter Kurzeck beginnen:
„Ich habe einen Nebensatz für mein voriges Buch, den Roman ‚Oktober und wer wir selbst sind’, geschrieben und dann gedacht: Wenn es dir jetzt gelingen würde, einen Winter-Sonntagnachmittag-Moment, als du zwölf warst, aufzuschreiben! Und dann habe ich damit begonnen – und schon ist dieses Glücksgefühl da, dass da etwas ist, dem man nicht widerstehen kann. Und am Ende sind es 1000 Seiten. Ich wusste seit meiner Kindheit, dass ich der Schönheit nicht widerstehen kann. Das ist wunderbar, es ist aber auch beängstigend. Und so ist es auch mit dem Schreiben: Ich kann ihm nicht widerstehen.“
Meine Damen und Herren, hier ist das Buch. 1022 Seiten – sein Titel „Vorabend“, der Titel signalisiert schon, dass es weitergeht! „Vorabend“ ist der fünfte Teil, der fünfte Roman einer sogenannten Dodekalogie, einer auf 12 Bände angelegten autobiografisch-poetischen Chronik, die nicht weniger will, als das alte Jahrhundert zu erzählen. Es ist das 20. Jahrhundert der Vertreibungen, der Kriege, der Atombombe, aber auch das Jahrhundert mit der längsten Friedensperiode in Westeuropa. Diesem Roman „Vorabend“ steht ein Motto voran, das dem Projekt den Bogen spannt und den großen Atem gibt.: „Die ganze Gegend erzählen, die Zeit!“ – in 14 Jahren sind die ersten fünf Bände erschienen, der erste Roman trug den Titel „Übers Eis“, es folgt „Als Gast“, der dritte „Ein Kirschkern im März“, dann „Oktober und wer wir selbst sind“, schließlich jetzt „Vorabend“ – sieben weitere Bände sollen folgen, die Titel stehen bereits fest und lassen sich als Vorankündigung lesen, ein Hinweis darauf, wie der Erinnerungsfuror diesen Autor treibt. Er hat die 12 Bände mehr oder weniger im Kopf. Da kann es dann schon mal zur Konfusion kommen, wenn bei der Arbeit am fünften Band aus Versehen ein Satz oder ein Bild aus dem noch nicht geschriebenen siebten Band virulent wird. Aber als neulich bei einer Lesung in Aschaffenburg jemand infrage stellte, dass Peter Kurzeck jemals mit den noch zu schreibenden 7 Bänden in der ihm verbleibenden Lebenszeit fertig werden könnte, erzählte er mir das mit einem melancholischen Lächeln im Auge, dem aber auch eine Spur Empörung zu entnehmen war.
Meine Damen und Herren, die Bergengruen-Gesellschaft zeichnet einen Schriftsteller aus, der am wahrscheinlich umfangreichsten Schreibprojekt dieser Epoche arbeitet. Und es wird sich zeigen, das darf man prophezeien, darin ist sich auch die Kritik weitgehend einig, dass dieser Autor mit seinen Büchern an den großen Schreibprojekten der literarischen Moderne wird gemessen werden können. In diesem Zusammenhang fallen immer wieder die selben Namen: Marcel Proust, Robert Musil, Alfred Döblin oder James Joyce.
Lassen Sie mich einführend eine Passage aus einem Gespräch zitieren, das wir kürzlich für ein Buch geführt haben. Ich habe Peter Kurzeck, der 1943 geboren wurde, nach Erinnerungen an Flucht und Vertreibung mit seiner Mutter und seiner Schwester gefragt, die Ereignisse fanden 1946 statt, da war Peter Kurzeck drei Jahre alt. Er hat mir folgendes geantwortet: „Von da an hatte ich den Zwang mich zu erinnern. Weil die grundlegende Erfahrung meines Lebens darin bestand, dass alles, was man sich nicht merkt, plötzlich für immer weg sein kann. Wir mussten uns in West-Böhmen, am Rand des Böhmerwaldes, auf dem Hauptplatz einer Geburtsstadt einfinden und durften nur eine geringe Menge Gepäck mitnehmen. Als wir hinkamen, stand da schon die halbe Stadtbevölkerung, hauptsächlich Frauen, Kinder und alte Leute, die Männer waren noch im Krieg, noch nicht zurückgekommen. Wir mussten zu Fuß aus der Stadt in ein Internierungslager laufen. Ich komme immer wieder in meinen Geburtsort zurück, eigentlich in alle Orte, die ich kenne, das ist wie ein Zwang. Ich habe viele Jahre gebraucht, um den Weg zum Lager zu rekonstruieren. Ich wusste den Anfang und ich wusste, wo dieses Lager im Wald eigentlich sein müsste. Ich wusste, man geht hier an der Stadtmauer vorbei, dort ist so ein kleiner dunkler Nadelwald mit österreichischen Villen. Aber immer dann habe ich eine Art Panik bekommen, Herzklopfen, und wusste nicht weiter. Bis ich eines Tages einen Mann, einen Tschechen, gefragt habe, der auch Texte von mir übersetzt hat. Und der sagte: ‚Wir können in fünf Minuten dort sein, wenn Sie nicht Angst davor haben.’ Wir sind hingefahren, es war mir eine große Erleichterung! Dieser Mensch ist an meiner Stelle in meinem Geburtsort aufgewachsen! Das finde ich auch schön. Die kamen ein paar Tage nach unserem Abmarsch in eine leere, geräumte Stadt, eine Geisterstadt, wie er sagte. Er war etwas jünger, glaube ich, als ich, und ihnen wurde mitgeteilt: Ihr könnt euch hier ein Haus aussuchen. So hat er Kindheit und Jugend stellvertretend für mich in meinem Geburtsort erlebt. Dieser Zwang, den ich von Kindheit an habe, mich zu erinnern, geht sicher auf Flucht, Vertreibung und den Ortswechsel zurück. Und natürlich habe ich als Kind die Angst der Erwachsenen erlebt. Die spürt man, besonders, wenn es Todesangst ist. Da waren alte Männer, die sprachen tagelang noch im Lager davon: ‚Wir werden alle erschossen, wir werden alle erschossen!’ Man wusste ja auch nicht, wo es hingeht. Es war nicht wie bei einem normalen Umzug, selbst der kann ein Kind ja schon erschüttern. Sondern es ging ins Ungewisse. Wir wurden mit Viehwaggons abtransportiert. Ich glaube, dass das Schreiben für mich damit anfing. Zugleich fing da die Welt an zu fahren! So, dass man auf den Horizont zulegt und der Horizont einem entgegenkommt.“
Du nennst es zwar Erinnerung, fragte ich – aber ist es im Grunde nicht auch eine lebenslange Orts- und Identitätssuche? Und Peter Kurzeck antwortete:
„Ja, natürlich. Das schärft die eigene Wahrnehmung sehr! Dann habe ich mir als Kind schon überlegt: Wenn du den Zwang hast, dich zu erinnern: Entweder wirst du verrückt werden, weil du das irgendwann nicht mehr aushältst, oder du merkst – das hat mir das Leben gerettet – du musst mit diesen Erinnerungen etwas anfangen, dann gehen sie nicht mehr verloren. Was dann daraus wird, wenn man nicht verrückt wird, das ist Kunst, denke ich.
Ich wäre sehr gerne auch Maler geworden! Ich habe lange beides versucht. Und habe mir dann überlegt, warum es letztlich das Schreiben ist. Deshalb , weil meine Erfahrung nach Sprache gedrängt hat, weil es mir nicht gereicht hätte, die Flucht nur zu malen oder zu zeichnen. Oder mir mit Buntstiften abends am Küchentische meiner Mutter ein Königreich zu schaffen. Ich brauchte die Sprache, auch deshalb, weil ich von Kind an ein gebrochenes Verhältnis zur Sprache hatte. Ich habe sprechen gelernt mit dem Dialekt meiner Eltern, der auch noch variierte. Meine Mutter hat eine Art Franzensbader Österreichisch gesprochen und mein Vater einen sehr harten Böhmerwald-, also Gebirgler-Dialekt. Aufgewachsen bin ich aber in Staufenberg bei Gießen, wo das ganze Dorf hessisch gesprochen hat. Da stellte sich mir die Frage: So spricht man bei uns zu Hause, so sagen es die Leute hier im Dorf – wie soll ich es jetzt sagen? Eigentlich hätte ich mir gewünscht, dass alle Menschen, mit denen ich damals zu tun hatte, so sprechen, wie die Menschen in den Büchern. Seit meinem 5. Lebensjahr war ich ein verrückter Leser. Nie ohne Buch. Die Sprache der Bücher hat für mich die wirkliche Welt bedeutet.“
Wie fing das Schreiben an? Kurzeck:
„Alles würde letztlich wie ein Naturgesetz in das eine einzige ewige Buch münden, in dem ich das Weltall aufzeichne, für die Ewigkeit! Alles in Lebensgröße; Faksimiledruck, zusätzlich alle Details unter der Lupe. Die Zeit, jeder Augenblick im Fluss und zur Ewigkeit erstarrt. Alles von allen Seiten, aus allen Perspektiven und in jeder Beleuchtung. Kein Augenblick, kein Ton, keine Farbe, nicht die geringste Unebenheit, kein Hauch, nicht Grashalm noch Sandkorn würden je verloren sein! Dazu alle Wege, die ich ging, alle Vergangenheiten und Zukünfte und die ewige Zeit Gegenwart, in der ich es schreibe, alles allgegenwärtig! Erst damit wäre die Schöpfung vollendet und (ein neuer Morgen) das Leben könnte endlich beginnen! (Die ganz Zeit Herbst)!“
So lesen wir es schon in Peter Kurzecks erstem Roman, 1979 erschienen, „Der Nussbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst“. Kein geringes Programm: Das verloren gegangene Leben sich schreibend zurückgewinnen wollen! Es gleichsam im Erinnern, im Festhalten, im genauen Beobachten, im empfindsamen Betrachten und im Finden der gemäßen sprachlichen Bilder neu zu beleben und dadurch aus der Vergänglichkeit in eine andauernde Gegenwart zu überführen.
Wer sich mit diesem erzählerischen Werk beschäftigt, wird immer wieder mit der Böhmischen Heimat seines Autors konfrontiert. Peter Kurzeck wurde am 10. Juni 1943 in Tachau geboren, das liegt im Westen Böhmens an der Grenze zur Oberpfalz und war Teil der ersten tschechischen Republik. In Tachau selbst, dem Hauptort dieser Region, waren noch in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von 6825 Einwohnern 6251 Deutsche, 448 Tschechen und 126 anderer Nationalität. Die Weltwirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit vieler Deutscher in dieser Region führten vor allem den Nazis Stimmen zu. Am 10. Oktober 1938 marschierten deutsche Truppen in Tachau ein, die NSDAP übernahm im Ort und im ganzen Sudetenland die wichtigen Positionen – die Juden wurden verfolgt, gezwungen, das Land zu verlassen, aus Tachau allein sollen 250 Juden nach Amerika und England emigriert sein, viele wurden ermordet, z.B. im Konzentrationslager Flossenbürg, in der Nähe Tachaus. Die Folge dieser Ereignisse, der Naziherrschaft, der Besetzung durch deutsche Truppen und des 2. Weltkriegs war nach dem Krieg die Enteignung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Tachau. In 20 Transporten wurden von März bis Oktober 1946 aus dem Tachauer Raum mehr als 23.500 Männer, Frauen und Kinder vertrieben und zwangsweise an die allliierten Besatzungszonen Deutschlands angesiedelt. Der Vater kam erst 1947 aus der Kriegsgefangenschaft. Da lebte die Familie bereits im hessischen Staufenberg. Von der Ankunft der Vertriebenen in Staufenberg bei Gießen erzählt der Roman „Kein Frühling“ von 1987, 2007 wieder aufgelegt. Darin werden die Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Staufenberg lebendig, das unmittelbar nach dem Krieg aus rund 1000 Einheimischen und 600 Vertriebenen bestand. Die Einheimischen und die Menschen, die da kamen, waren sich fremd. Die einen hatten schon alles verloren, die anderen wollten in ihrer Armut nicht auch noch den Rest verlieren oder teilen und hatten vergessen, dass Jahrhunderte früher auch sie mal Flüchtlinge waren, die hier einen Ort zum Leben gefunden hatten. Ein schweres, ein hartes Leben und ein Leben in extremer Armut kam auf alle Beteiligten zu. Das Kind Peter Kurzeck nimmt das alles auf wie ein Seismograph und lagert es ab. Später kommt es im Vorgang der Erinnerung wieder zum Vorschein – gerade auch im Roman „Vorabend“ – wobei der Begriff Erinnerung hier spielerisch zu verstehen ist und gelegentlich durchaus auch ins Erfinden changiert. Davon ganz abgesehen, dass Erinnerung grundsätzlich zwar die Wirklichkeit mit beinhaltet, immer aber auch Produkt der Phantasie ist. Die Bücher von Peter Kurzeck sind keine Biografien, ganz bewusst stehen sie unter der Gattungsbezeichnung Roman, alle zehn bisher vorliegenden Bücher, davon acht mit mehr als 300 Seiten, ergeben dennoch den Roman seines Lebens. Denn alle Bücher kreisen um sein Leben! Ein elftes Buch liegt bisher nur als mündliche Erzählung vor – als Hörbuch des Jahres 2008 ausgezeichnet, „Ein Sommer, der bleibt“ – Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit, hier zeigt sich eine Wurzel der literarischen Begabungen dieses Autors: Eine wesentliche Linie seines Werkes verweist auf die Tradition des mündlichen Erzählens.
Mit Verständnis, mit Empathie und Zuneigung zu den Menschen seiner Kindheit entfaltet er im Roman ein orchestrales Werk der Stimmen, Gedanken, Töne und Emotionen, das in seismographischer Wahrnehmung die schleichenden Veränderungen registriert, denen die Menschen in jener Nachkriegsepoche ausgesetzt sind. Hinter dem alltäglichen, zutiefst ärmlichen Dorfleben der Nachkriegszeit in seinem nur auf den ersten Blick gleichbleiben-dem Lebens- und Arbeitsrhythmus durch die Jahreszeiten schwelen Zündschnüre. Und es keimen Hoffnungen. Die Höfe allein sichern das Überleben nicht mehr. Peu á peu werden aus den Bauern Freizeitbauern. Als Früh- oder Spätschichtler sind sie bald im „Fabrikschritt“ in die Eisenfabrik im benachbarten Lollar unterwegs. Oder in die Schamottfabrik nach Mainzlar. Die Frauen besorgen den Hof, den Einkauf, füttern das Vieh. Die Alten werkeln im Stall, die Kinder sitzen im Unterricht. Nachmittags baden sie in der nahen Lahn oder rennen, sehnsüchtig den Zirkus erwartend, der die Welt in die ländliche Region bringt, die Straße abwärts nach Lollar. Das war früher nur ein Straßendorf. Inzwischen ist es zu einem Marktflecken mit Bahnhof, mit Radio- und Fahrradgeschäft, mit Kino, Apotheke, Schuh-, Woll-, Textil- und Hutgeschäft herangewachsen. Die Fabrikarbeit bestimmt zunehmend den Alltag, dem Hof bleibt das Wochenende, der Freizeit bleibt nichts. Kurzeck erzählt das minutiös aus den verschiedensten Perspektiven, versetzt sich in das widersprüchliche Fühlen, Denken, Reden und Tun der Dorfbevölkerung. „Ins Eisenwerk, aufs Feld und in die Schamottfabrik alle Tage und zehn Jahre eher sterben – das geht so: mit dreißig Eisenkochen, das halbe Leben schon abwechselnd Frühschicht und Nachtschicht am Ofen; bei Tag auf den Acker, das Vieh, das Feldstück versorgen, die Jahreszeitarbeit; die Ochsen tragen den Himmel.“
Schon diese poetische Metapher am Ende des Satzes lässt die Arbeit an der Sprache ahnen. Hier ist jeder Satz austariert, Rhythmus und Musikalität sind spürbar. Kurzeck schreibt eine artifizielle Kunstsprache, die dem mündlichen Erzählen nahe ist, aber doch bearbeitet, aufgerauht, durch Neologismen, regionale Eigenheiten und gelegentlich auch durch dezente Dialektanklänge fremd und vertraut zugleich.
Der Mikrokosmos eines Dorfes im schmerzhaften, aber auch neue, noch nicht abzuschätzende Perspektiven öffnenden Aufbruch in die Wohlstandsgesellschaft der 50er Jahre als vielschichtiges, assoziatives Erzählgeflecht, nicht zufällig angesiedelt in einer nassen und kalten Jahreszeit – die äußeren Veränderungen erzwingen die Anpassung der Menschen. Das Lebensklima ist das der Kälte. Die Verluste sind am eigenen Leib zu spüren, nur langsam werden auch die Gewinne sichtbar, die Straße wird gebaut, Arbeitsplätze tun sich auf, das Scheißhaus über den Hof wird durch einen Anbau mit Badezimmer ersetzt, in der Stadt winkt eine Lehre als Auto- oder Rundfunkmechaniker. Aber die Doppelbödigkeit und die Ambivalenz der Veränderung bleiben jederzeit sichtbar, Peter Kurzeck findet dafür ein wunderbar luzide Ironie im Ausdruck. Diesem meist mit Sympathie schweifenden und assoziierenden Blick, dieser skeptischen Nachdenklichkeit entgeht kein Mensch, kein Tier, kein Ereignis, keine Sehnsucht, keine Angst, keine Verzweiflung, keine Freude – nicht die Erschöpfung der durch Fabrikarbeit und Landwirtschaft überforderten Menschen, die Trostlosigkeit ihrer Lebensumstände, aber auch nicht die Vorurteile und die Ressentiments, die charakterlichen und geistigen Schwächen, die Unbeweglichkeit, mangelnde Flexibilität und Mobilität, nicht die heimlichen Wünsche und offenen Begierden der Erwachsenen, nicht die Verärgerung der Alten über die Entscheidungen der Jungen, nicht die autoritären Erziehungsmethoden der Eltern und das Fernweh der Kinder und Außenseiter.
Der Schriftsteller Peter Kurzeck ist ein Menschenfreund, der dennoch nichts und niemanden für die leicht zu habende Pointe verrät! Er ist nicht hart geworden in den Schicksalsschlägen und Abwegen seiner eigenen Biographie. Im Gegenteil: Sie haben ihn sensibel gemacht, warmherzig, aufmerksam, interessiert, zugewandt. Dieser Autor lebt und schreibt im Offenen. Von dort aus kommt er in seinen erzählerischen Panoramen zu seinen kunstvollen, differenzierten Menschenbildern und kritischen Befunden unserer Lebensverhältnisse.
Aber kommen wir zu den weiteren zentralen Stationen der Biographie. Da ist das nahe Gießen, wohin Peter Kurzeck nach der Grundschule in Staufenberg einige Jahre aufs Gymnasium ging , bevor er mit 14 oder 15 Jahren von der Schule flog und „in einem niederschmetternden Kramladen“, wie es in dem Buch „Mein Bahnhofsviertel“ heißt, eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann absolvierte, um dann 11 Jahre für die US Army zu arbeiten. Am Horizont leuchtet die Verheißung – die nächste Metropole: Frankfurt/Main, mit ihrem verrufenen Bahnhofviertel. Mit Bockenheim und dem Westend, wo er später leben wird, mit ihren Jazz- und Musikkneipen, 80 Kilometer entfernt. Damit ist das Terrain abgesteckt, in dem der Autor seine Erkundungen der bundesrepublikanischen Wirklichkeit von der Nachkriegszeit bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts durchführt, in einer akribischen Erinnerungs- und Archivierungsarbeit in immer neuen Anläufen den Roman seines Lebens schreibt.
In erster Linie ist dieses Werk der Selbstvergewisserung und Identitätssuche im Fluss der Zeit geschuldet. Kurzeck knüpft dabei an einige Klassiker der literarischen Moderne an, die sich ganz aus der Subjektivität und der Sprache heraus in Beziehung zur Wirklichkeit setzten, weil die gesellschaftlich begründeten Sinn- und Zweckzusammenhänge nicht nur durch die zwei Weltkriege brüchig und obsolet geworden waren, und damit auch die fiktionalen literarischen Entwürfe an Glaubwürdigkeit verloren hatten. Die Kritik verweist auf Proust und seine „Suche nach der verlorenen Zeit“, auf die offene Erzählstruktur von James Joyce, die alle Wahrnehmungen, Erinnerungen, Gedanken und Träume zu amalgamieren vermag; auf die Abenteuer des kleinen Mannes Franz Biberkopf in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Das Ich muss sich vor dem Hintergrund der Auflösung der moralischen und ethischen Werte neu verorten.
Die bisher erschienen fünf Romane der autobiographisch poetischen Chronik Das alte Jahrhundert sind Frankfurt-Romane. Was nicht heißt, daß sie ausschließlich in Frankfurt spielen! Am 31. August 1977 ist Peter Kurzeck mit seiner Gießener Freundin Sibylle von Staufenberg nach Frankfurt umgezogen, um dort sein erstes Buch „Der Nussbaum gegenüber dem Laden in dem du dein Brot kaufst“ zu beenden. Fortan ist Frankfurt sein Wohnort, bis er in den 80er Jahren nach Uzès in Südfrankreich umzieht. Trotzdem ist letztendlich Frankfurt und Kurzecks Verlag Stroemfeld/Roter Stern mit dem inzwischen legendären Verleger K.D. Wolf sein Zentrum in Deutschland geblieben.
Im Sommer 1979 hat Peter Kurzeck seinen Alkoholismus überwunden, von dem er in dem Roman „Das schwarze Buch“ von 1982 erzählt: „Mit 15 ein großes Glas Rum, ein Glas Wein, eine Flasche Wein, deine erste, dann einundzwanzig Jahre lang nicht mehr nüchtern gewesen.“ Es waren zunächst die Gießener Jahre in den Endfünfzigern der Adenauer-Ära, wenn man so will auch eine Flucht aus der Dorfenge ins vorzeitige Erwachsenenleben. „Ich war vierzehn, erste Liebe, zum erstenmal Reisen, Einsamkeit, das Meer“ schreibt Peter Kurzeck, „nie zuvor hatte ich Erinnerung, Sehnsucht, Leben, Zeit, Jahreszeit, Menschen, Dichtung und Malerei so intensiv erlebt.“ Es ist die Epoche der Gießener Lehrzeit, der Trips nach Frankfurt und immer wieder der Kneipenbesuch und Begegnung mit „allerhand Volk“, wie es heißt. Als „Kneipenelegie“ hat Jochen Hieber in der FAZ diesen Roman bezeichnet, der sich auf mehrer Erzählstränge verteilt, die locker miteinander verwoben sind. Es dominiert die Diskontinuität, das assoziative Changieren zwischen den Erinnerungsfeldern – ein literarisches Verfahren, das Peter Kurzeck in seinem späteren Jahrhundert-Projekt zur Meisterschaft geführt hat. Die Gießener Zeit, und dann die ersten Frankfurter Jahre verbunden mit exzessivem Lebenswandel, dem Alkoholismus und anderen Drogen, diese Zeit ist eine Gratwanderung, dicht am Absturz. Nicht zufällig spielt im Roman das Gefängnis eine Rolle, Fiktion und biografische Wirklichkeit sind hier noch deutlich voneinander getrennt, im späteren Projekt sind Fiktion und Wirklichkeit dann fast identisch. „Das schwarze Buch“, dieser Roman eines Alkoholikers, entpuppt sich als Selbsttherapie eines Schriftstellers, der in den Suff geflohen, gleichsam ins Exil gegangen war. Den Tod vor Augen schreibt er, sich erinnernd, das Leben neu und findet 1979 in dieses Leben zurück. Dass auch das nicht einfach war, davon gibt er Kunde, als er bei seiner Festrede zum 27.
Stadtschreiberamt von Bergen-Enkheim von fünf Umzügen in Frankfurt innerhalb eines Jahres sprach – und wörtlich sagte: „Ich bin in all diesen Frankfurter Jahren meine alte, begründete Kinderangst vor der Obdachlosigkeit nicht einen einzigen Tag losgeworden. Immer ist mir, mein Schreiben sei nicht zulässig, illegal, kriminell. Für Grund und Boden gibt es überall auf der Welt Besitzer, aber die Erde und der Himmel gehören uns allen. Eine so einfache Wahrheit, dass man sie manchmal vergisst.“
1979 schafft Kurzeck die Wende. 1979 ist auch das Jahr, in dem seine Tochter Carina geboren wird. Zu dritt wohnen sie in Frankfurt-Bockenheim in der Jordanstraße, Peter Kurzeck, seine Freundin Sibylle und Carina, es sind auch in der Chronik die Namen der tatsächlichen Personen. Im Herbst 1983 trennt sich Sibylle nach neun Jahren überraschend von Peter, zugleich verliert er seinen Halbtagsjob in einem Antiquariat, den er benötigt, um schreiben zu können. Es ist eine weitere Zäsur, er hat gerade sein drittes Buch, den Roman „Kein Frühling“ angefangen. Vielleicht hatte die obsessive Form des Schreibens und des Lebens aber doch Verletzungen hervorgerufen und die Beziehung zerstört. Kurzeck schreibt immer wieder von der neuen Zeitrechnung, die mit dieser Trennung für ihn begann. Fast 13 Jahre dauerte es, bis diese Epoche so verarbeitet war, dass er das „Jahrhundert-Projekt“ in Angriff nehmen konnte. 1997 erschien dann der Roman „Übers Eis“, der erste Band des auf 12 Bände angelegten Projekts – „Ich schrieb, um zu bleiben. Damit ich bei mir selbst und auf der Welt bleiben kann alle Tage“ lesen wir da.
Wenn ich sage, die ersten fünf Bände des Projekts sind Frankfurt-Romane, dann deshalb, weil alle fünf minutiös im Alltag von Sibylle, Peter und der Tochter Carina zwischen Dezember 1983 und dem Herbst 1984 im Frankfurter Westend ansetzen. Der tägliche Gang zum Kindergarten, Besuch bei Freunden – und von diesen Alltagsverrichtungen mit allem, was man sieht, fühlt, denkt, sagt und tut entwickelt sich ein fulminanter, assoziativer Erinnerungsstrom, der sich zu einem großen und verzweigten Erzählgeflecht über Zeiten, Menschen und Orte hinweg ausdehnt in Vergangenheit und Zukunft und dabei in gedehnter Gegenwart die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg mit allen Umbrüchen und Veränderungen bis in die kleinsten mentalen Eigenheiten und die Sprache, bis zu den Veränderungen an Mensch und Tier, an Landschaft und Natur, am Städtebau und Geschäftsleben, bei der Arbeit, an den Alltagsritualen, am Umgang der Menschen miteinander, am Straßenverkehr draußen und beim Geschlechtsverkehr drinnen, im Lebensgefühl, im Dorf- und Kleinstadtleben in den Blick nimmt. Insbesondere der Roman „Vorabend“ richtet von Frankfurt aus den Focus auf die hessische Provinz zwischen Gießen und Marburg, auf Staufenberg, Lollar mit dem Eisenhüttenwerk Buderus, auf Gießen – die früheren Wohnorte des Erzählers, seiner Eltern, seiner Schwester, seines Schwagers, seiner Verwandten und Freunde. Extrem genau, bizarr vergrößert, mal auf Distanz gerückt, mal detailliert, mal gestaut oder vorbeihuschend, registriert und beobachtet er die Veränderungen, versucht er, die Zeit für einen Moment anzuhalten, beschwört er einen Tag der Vergangenheit, hält ihn gleichsam in der Gegenwart für die Ewigkeit fest. Man kann das Leben nur schlecht in eine Inhaltsangabe pressen, dafür ist es zu vielfältig – und Kurzeck ist ein Meister des Details. Nur als Beispiel: Eine Hymne auf die alten Dorfläden als Orte der Kommunikation der Erwachsenen, der Alten, der Jungen, aber auch der Sinne und der Phantasien der Kinder – und wie diese Läden geschlossen und zu gigantischen Supermärkten mit die Kauflust anreizenden Musiken und separater Zufahrtsstraße verändert wurden, ohne Auto nicht mehr zu erreichen. Vor diesem Hintergrund aller sich gleichsam mit wachsender Geschwindigkeit verändernden Lebensumstände erscheint das Existenzielle unseres Daseins auf, die Gefährdungen, denen wir ausgesetzt sind oder uns selbst aussetzen, unsere Pathologien, Verletzungen und Zerstörungen, unsere Phantasmen und heimlichen Wünsche, die Leistungen, die wir zu erbringen haben, unsere Fluchtburgen und Ausweichquartiere, unsere Schwächen, unsere Anstrengungen und unser Versagen, unsere Malaisen, Hoffnungen, Leidenschaften, Schmerzen und Freuden, nicht zuletzt die Veränderungen in der Sprache, in den Dialekten, alles festgehalten, alles registriert und bildhaft vor Augen gebracht – konkrete Dorf-, Stadt-, Zeitgeschichte. Sprachgeschichte und Naturgeschichte auch! Und immer mit konkreten Menschen, die der Ich-Erzähler nachvollziehbar und liebevoll vor uns aufbaut.
In kunstvoll verknappten Sätzen, denen häufig das Verb fehlt, im Duktus des die Erzählgeschwindigkeit variierenden erzählenden Ichs, das nicht verbirgt, dass es das des Autors ist, mal als Kind, mal als Jugendlicher oder Erwachsener oder auch das Ich eines Igels, dieses Ich mäandert und springt durch die Zeit, belebt den Roman „Vorabend“ melodiös und mit zärtlicher Empathie für Natur und Menschen und die Vergänglichkeit auch der materiellen Dinge der Wahrnehmung und Beobachtung – und stimmt jenen Ton an, den man ob seiner Einzigartigkeit als Kurzeck-Ton bezeichnen darf: atmosphärisch dichte, mitunter melancholische, aber durchaus auch lebensfrohe Schmerzprotokolle des Alltags, des Verlustes, aber auch der Schönheit, des Glücks, nicht ohne Ironie , Selbstironie und Komik!
Dieses Werk ist der Selbstvergewisserung und Identitätssuche im Fluss der Zeit geschuldet. Es ist ein außergewöhnliches Werk, in der deutschen Gegenwartsliteratur ganz ohne Vergleich.
Es ist auch durchaus nicht so, dass sich die Existenz dieses Autors auf die 80 Kilometer zwischen Staufenberg und Frankfurt beschränkt. Er wohnt in Uzès in Südfrankreich – vielleicht auch, weil er der modernen französischen Literatur tatsächlich näher steht als der deutschen, aber das ist ein anderes Kapitel. Und er ist gereist, kennt nicht nur die Metropolen Europas und das Meer, das ihm ein ewiger Sehnsuchtsort ist. Doch als Sysiphos der Erinnerung, wie man ihn genannt hat, wird er sich auch weiterhin an den Orten und Landschaften abarbeiten, an denen er ins Leben gefunden und die Gefähr-dungen durchgestanden und bewältig hat. „Man hat nicht sehr viel Entscheidungsfreiheit, was man wann schreibt. Das schreibt einem viel eher der Stoff vor, das Thema“ sagt er.
Nachruf auf Peter Kurzeck
Nachruf auf Peter Kurzeck (* 10.6.1943, + 25.11.2013)
Als wir, meine Frau und ich, ihn Mitte September diesen Jahres im Kempowski-Haus in Nartum zum letzten Mal trafen, zeigte er sich von der gleichen lebhaften, heiter schmunzelnden Weise wie vor zwei Jahren bei der Verleihung des Werner-Bergengruen-Preises an ihn in Uelzen. Er erzählte – so, wie nur er erzählen konnte – von der Nacht in unserem Haus in Hambrock, in der ihn die Nachttischlampe an seinem Bett wie ein Tier angefallen habe. Tatsächlich war er anderntags zum Frühstück mit einem Pflaster an der Stirn erschienen.
Peter Kurzeck trauern jetzt viele Freunde und die großen Feuilletons in Deutschland nach. Die Zeit nennt ihn den „Chronisten des 20. Jahrhunderts“; die Frankfurter Allgemeine vergleicht ihn mit Jean Paul; Wend Kässens, der Laudator 2011 in Uelzen, stellt ihn in eine Reihe mit Marcel Proust, Robert Musil, Alfred Döblin und James Joyce. Auf meinem Nachttisch liegt seit zwei Jahren sein fünfter Band aus dem auf zwölf Bände angelegten autobiographischen Romanzyklus „Das Alte Jahrhundert“. Er hat den Titel „Vorabend“, zählt über 1000 Seiten und hat zum Ausgangspunkt ein Wochenende im Jahr 1982. Ich lese immer wieder darin, ohne darauf zu achten, wie weit ich mit der Lektüre schon gekommen war. Denn es ist für mich immer erneut ein Eintauchen tatsächlich ins „alte Jahrhundert“. Als einer aus der gleichen Generation habe ich es in meiner zweiten oberschwäbischen Heimat ähnlich erlebt wie Peter Kurzeck in der Wetterau, wohin es ihn nach dem Krieg mit seiner Mutter und seiner Schwester aus West-Böhmen verschlagen hatte. Doch wie er, von jenem Wochenende in Frankfurt ausgehend, sich zurück erinnert, wie er erzählt und erzählt (es gibt die Vorstufen zu den fünf Bänden auch im Originalton auf CD), ganz hart am Detail und doch mit der ganz großen spielerischen Phantasie eines Poeten: die ärmliche Dorf-Idylle der unmittelbaren Nachkriegszeit; die Umwandlung der Gegend, des Straßenverkehrs, der Berufe im sogenannten Wirtschaftswunder; der Einbruch des Öffentlichen in das Private mit Radio, Kino und Fernsehen – das ist atmosphärisch so dicht, bildlich und sprach-musikalisch so austariert, dass man den Rhythmus der Zeit zu erkennen meint. „Die ganze Gegend erzählen, die Zeit“ ist dem „Vorabend“ als Motto vorangestellt.
Nun ist dieses auf zwölf Bände geplante Vorhaben ein Torso geblieben – wie man es schon vermuten konnte, wenn man dem überaus zarten und länger ja auch schon an Krebs erkrankten Mann begegnet ist (getötet haben ihn, wie der Verlag mitteilt, mehrere Schlaganfälle). Er hatte diese zwölf Bände bereits in seinem Kopf und war erstaunt, als ihm jemand mal die Unmöglichkeit ihrer Vollendung vorrechnete. Geschätzte 270 Jahre alt hätte er werden müssen. Na und?, war seine Antwort. Dann schreibe er eben als Engel weiter.
Eckhard Lange