Dankrede der Preisträgerin Zsuzsanna Gahse
Meine Damen und Herren,
zunächst geht es um einen Ausschnitt aus Werner Bergengruens Roman-Novelle Pelageja.
„Schreibe so, Stepka“ heißt der erste Satz auf der ersten Buchseite, und die Anweisung des Erzählers „schreibe das so, schreibe das lieber nicht“ wiederholt sich bis zum Schluss als eine Art Zäsur.
Zsuzsanna Gahse|Foto: Folkert Frels
Der Erzähler ist ein alter Mann, der seinem Enkel Stepka Erinnerungen an ein ungeheures Seeabenteuer diktiert:
„Nowo-Archangelsk war also unser Heimathafen. Jetzt erzähle ich von der letzten Fahrt des „Heiligen Wundertäters Nikolai“ /so hieß das Schiff/ und was dann weiter geschehen ist.
Im Monat September des eintausendachthundertundsiebzehnten Jahres verließen wir den Hafen von Novo-Archangelsk, um weiter südlich an der Küste von den Eingeborenen Pelze zu erhandeln und alsdann San Franzisko im nördlichen Kalifornien anzulaufen. Der Kapitän unseres Schiffes hieß Nikodim Fomitsch Bulygin, ein sehr kräftiger Mann, nahezu sechseinhalb Fuß hoch. Er war verheiratet, aber noch nicht sehr lange, und hatte seine Frau bei sich. Die Frau hieß Pelageja Grigorjewna. Bulygin liebt sie sehr und hörte auf sie, und sie lebten nicht schlecht zusammen. Sie konnte auch mit den Eingeborenen sprechen, sie war eine Kapitänstochter und schon mit ihrem Vater auf See gewesen. Das war die einzige Frau unter uns. Mancher freute sich, daß sie da war, und sah sie gern an; es versteht sich, mit aller Hochachtung und Schicklichkeit, was ja nicht hindert, dass in den Kojen auch auf andere Art von ihr geredet wurde, denn so ist es auf See; aber auch das geschah nicht ohne Hochschätzung und Bewunderung. Sie hatte etwas Herrisches, aber die meisten von uns taten gern was sie uns auftrug. Sie liebte es, zu singen, dann hörten wir ihr gern zu. Meistens sang sie Lieder in kleinrussischer Mundart. Manchmal mußte Plintschuk mit ihr zusammen singen. Plintschuk war ein hübscher, hellhaariger Bursche aus dem Poltawaschen Gouvernement und wußte sehr viele kleinrussische Lieder.
Hast du das alles über Pelageja Grigorjewna so geschrieben, Stepka, wie ich gesagt haben? Nein, schreibe das nicht, weil es vielleicht nicht die Wahrheit ist. Und wenn es doch die Wahrheit ist, so gibt es außerdem noch eine andere Wahrheit. Ach, lasse schon stehen, was du geschrieben hast, ich werde ja später sagen, was mit Pelageja Grigorjewna geschehen ist.“
Nun hätten wir Bergengruensche Sätze in den Ohren – und die Formulierung, dass Pelageja „keinen unnützen Stolz“ gehabt habe, ist bemerkenswert und schön gezielt eingesetzt. Deutlich zeigt sich das am Ende der Novelle.
Sobald ein Schriftsteller, eine Schriftstellerin die Nachricht von einem Literaturpreis erhält, der ihm oder ihr zugesprochen wird, steht sofort ein Name im Raum, der Name des Preises, und im Handumdrehen nimmt die auszuzeichnende Person eine Beziehung zur Benennung auf.
Ah, sagt sie! Kölner Literaturpreis, Österreichischer Staatspreis! Und schon hat sie die ganze Stadt Köln vor Augen oder ganz Österreich. So verhält es sich bei den Auszeichnungen, die mit topographischen Bezeichnungen versehen sind. Konzentrierter geht es bei jenen Preisen zu, die nach einem Autor benannt wurden und daher einen unmittelbaren Dialog mit dem Autor selbst auslösen, so dass sich im Kopf der Preisträgerperson Verbindungslinien ausbreiten, Verknüpfungen mit dem Namensgeber.
Der Namensgeber aber schweigt. Ihm zu Ehren wurde der Preis ausgesprochen; beinahe könnte man sagen, dass auch er ausgezeichnet wird, aber wohl oder übel wird er zu keiner der ausgezeichneten Personen seine Ansichten preisgeben.
Folglich gibt es einerseits den lautlosen Dichter, andererseits eine interessante Beziehung zu ihm – anhand eines Preises.
Der schillernde Kleistpreis, die mehrfachen Schillerpreise, der feine Büchner-Preis, der Peter-Huchel-Preis, der gute Jandl-Preis, Pastior-Preis und heute nun der schöne Bergengruen-Preis. Der Werner-Bergengruen-Preis! Und weil mir literarische Beziehungen seit jeher viel bedeuten, möchte ich mit der Namensliste fortfahren. Der Jonke-Preis, Fried-Preis, Robert-Walser-Preis. Der Lessing-Preis. Was alles könnte einem zu diesem Autor einfallen! Aber gibt es einen Ilse-Aichinger-Preis? Und gibt es im deutschen Sprachraum etwa deshalb keinen Beckett-Preis, weil Samuel Beckett nicht Deutsch geschrieben hat, während er doch auch auf deutsche Autoren einen erheblichen Einfluss hatte? Ähnlich verhält es sich mit der existentiellen Welt György Táboris. Bildende Künstler werden in seinem Namen geehrt, Literaten nicht. Hingegen ist der Italo-Svevo-Preis beispielhaft, weil in diesem Fall ein italienischer Schriftsteller durch die Ehrung eines deutschsprachigen Autors in Erinnerung gerufen wird.
Die genannten Preise und weitere mehr sind Verbindungen von Autoren zu Autoren und damit ein Netzwerk, und meine Beziehung zu Bergengruen zeigt gleich eine mehrfache Vernetzung, da von ihm eine Biographie über E.T.A. Hoffmann vorliegt, und meine ersten beiden Bücher sich teils auf Hoffmann beziehen. Hinzu kommt, dass Bergengruen mit seiner Novelle Die drei Falken an Boccaccio verweist, und ich wollte mit den zehn Geschichten in meinem Buch Stadt Land Fluß ebenfalls an Boccaccio erinnern. Mit diesen beiden Querverweisen bin ich mit Werner Bergengruen bereits zu viert.
Die Romannovelle Pelageja, von der zu Beginn die Rede war, hatte Bergengruen 1936 geschrieben, mit 44 Jahren. Erscheinen konnte sein Buch erst ein Jahrzehnt später, in der Schweiz, im Arche Verlag, insofern hat die Seemannsgeschichte eine Schweizfärbung, und unter anderem wegen dieser Färbung habe ich sie aus der Schweiz nach Uelzen mitgebracht. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat Pelageja mit dem Untertitel „Ein Abenteuer aus Alaskas russischer Zeit“ mehrere Neuauflagen erlebt.
Alaska also. Dort an der Südwestküste wurde der alte Erzähler als junger Mann in dramatische Abenteuer verwickelt, bei der die Mehrheit der Schiffsbesatzung das Leben verlor. Ein gekentertes Schiff, Eiseskälte, Unwetter, Eifersuchtsgeschichten, Begegnungen mit Eingeborenen, die die hohe Kunst von Versteckstrategien und den geschickten Hinterhalt kennen. Spannend schöne Lektüre, sagen sicher einige Leser noch heute. Das sagen sie. Für mich steht eher Bergengruens Erzählweise im Zentrum und die Gegenden, von denen, beinahe unabhängig vom übrigen Geschehen, wiederholt die Rede ist, von Sibirien und von Ochotsk, gelegen an der äußersten Ostküste Asiens, von der Beringstraße und den Fuchsinseln. Eine mindestens so tragende Rolle wie diese Sehnsuchtsorte spielen die Idiome, die der Erzähler erwähnt. Englisch, russisch, aleutisch und die Sprache der Indianer. Hinzu kommt, dass die Titelfigur Pelageja, jene Frau, „die keinen unnützen Stolz“ besitzt, gern und oft singt und zwar grundsätzlich kleinrussisch.
Die kleinrussischen Gesänge hätten vor achtzig Jahren, in der Entstehungszeit der Novelle, als Provokation gelten können, und eine Zündkraft haben sie auch heute, so dass es sich lohnt, sich über die Stellung des Kleinrussischen im Gegensatz zum Großrussischen und zum Ukrainischen zu orientieren.
Allerdings war Werner Bergengruen kein Provokateur, beziehungsweise provozierte er nur leise.
Er war an Sprachen interessiert, an Sprachfamilien und deren Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten, und seine Aufmerksamkeit für Landschaften, für die Topographie und Geographie, gehen Hand in Hand mit seiner sprachlichen Neugier. Besonders in dieser Hinsicht freue ich mich über die Verbindung zu Werner Bergengruen. Verständlich wird diese Verbundenheit erst recht, sobald ich beispielsweise das Baltikum erwähne. Bergengruen, in Riga geboren, hat in der baltischen Umgebung sicher von Anfang an eine Sprachvielfalt erlebt, für mich wiederum ist das Estnische im Baltikum eine Fundgrube bei meiner Suche nach finnougrischen Wörtern. Seine Offenheit Sibirien gegenüber – die auch in Pelageja zum Tragen kommt – oder seine Beschäftigung mit der aleutischen Sprache, sind mir aus ähnlichen Gründen sympathisch. Parallel zu seiner Abenteuernovelle zu See möchte ich ihn einen außerordentlichen Sprachseefahrer nennen. Und entsprechend könnte ich sagen, dass ich beinahe eine Sprachseefahrende bin.
Von seinen Sprachen, seinen sprachlichen Interessen und von seinen Übersetzungen sollte ich ausführlicher reden, und für einen solchen Austausch sehe ich eine gute Gelegenheit.
Der letzte Tag des Jahres, der ja nicht nur für mich, sondern für beinahe jeden der letzte Tag des Jahres ist, dieser Tag, den notwendigerweise alle gemeinsam erleben, und an dem sie mit einer gemeinsamen Beziehung auf die Stunde Null zugehen, ist ein Fest, auch wenn es jemand nicht festlich begehen mag. An diesem Tag, genauer gesagt am Abend des 31. Dezember, lade ich seit Jahren Gäste ein. Wir haben ein altes Haus auf dem Lande, mit schönen Ecken im Erdgeschoss und im ersten Stock. Im relativ breiten oberen Flur mit Südausblick steht ein Tisch mit zwei Stühlen, und dort sitzt meist E.T.A. Hoffmann, mitunter gerne allein, still wartet er auf Mitternacht. Im Zimmer nebenan haben Ernst Jandl, Oskar Pastior und Natalia Ginzburg den Abend schon mehrfach gemeinsam verbracht, einmal waren auch Böll und Ilse Aichinger dabei, und es gab einen kleinen Streit darüber, wie man heute am besten erzählen könnte. Natürlich ist auch bei uns im Wohnzimmer am ehesten Platz für mehrere Gespräche, und wenn Nathalie Sarraute zu Besuch kommt, bleibt sie dort unten im Erdgeschoss, wie angewurzelt erwartet sie das Jahresende, neben ihr, ebenfalls wie angewurzelt, Helmut Heißenbüttel, und in ihrer Nähe geht der junge Georges Perec auf und ab. Mehr als zwanzig oder fünfundzwanzig Schriftsteller sind selten anwesend. In meinem Arbeitszimmer sitzen Cervantes und Shakespeare in einer Ecke, jedes Jahr unzertrennbar, sicher nicht nur wegen des gemeinsamen Todestages. Sie trinken mal einen Rotwein, mal einen Whisky oder ein Glas Wasser. Bei den beiden tauchen immer wieder auch andere Gäste auf, letztes Jahr waren es Verdi und György Tabori, und taktlos muss ich sagen, dass sie sich zu viert über die Möglichkeiten des Theaters schier totgelacht haben.
Dieses Jahr hoffe ich endlich auch Werner Bergengruen bei uns anzutreffen. Zusammen mit der Sarraute, beispielsweise mit ihr, könnten wir über Sprachen reden, auch über das Russische, über die Probleme von Übersetzungen aus dem Russischen, bei denen sich Bergengruen bestens auskennt. Wenn ich Glück habe, wird auch Tschechow dabei sein, und sicher würden einige Gäste bei unseren Überlegungen gerne mitreden. Nur unter anderem über Bergengruens Übersetzung von Tolstois Krieg und Frieden, die nach wie vor als eine der prominentesten Fassungen gilt. Und der immer gut orientierte Helmut Heißenbüttel wird auf die Weltoffenheit Bergengruens hinweisen, wohl mit dem Vermerk, dass diese bescheiden vorgetragene internationale Offenheit im Augenblick überaus notwendig sei.
Aber selbst, wenn Werner Bergengruen aus welchen Gründen auch immer verhindert sein sollte, freue ich mich über den Literaturpreis in seinem Namen und danke dem Jurorenteam sehr herzlich, danke auch Eckhard Lange und der Bergengruen-Gesellschaft. Und Nico Bleutge danke ich für sein fein humoriges Laudatio-Geschenk, mit dem er mich heute bei der Preisverleihung überrascht hat.
Zsuzsanna Gahse