Laudatio

Mark Siemons

Lieber Ingo Schulze, sehr geehrte Damen und Herren!

Das Ereignis, mit dem heute vor dreißig Jahren unsere wiedervereinigte deutsche Gegenwart begann, kommt bei Ingo Schulze einmal als beiläufige, eher störende Unterbrechung der Geschichte vor, um die es eigentlich geht. Im Fünfzehnten Kapitel des V. Buchs seines jüngsten Romans „Peter Holtz“ platzt der Mauerfall ziemlich ungehobelt in eine Versammlung von DDR-Oppositionellen im Französischen Dom, die sich ihrer eigenen Bedeutung nur zu bewusst ist. „Der Vertreter der Initiative Frieden und Menschenrechte“, so wird da erzählt, „ist schon auf dem Weg zur Kanzel, als plötzlich eine junge Frau im Mittelgang steht und ruft: ‚Die Mauer ist offen! Kein Witz! Die Mauer ist offen!’ Da erhebt sich Joachim Lefèvre und ruft: ‚Wir sollten aus Fairness gegenüber jenen, die sich noch nicht vorstellen konnten, weiter anhand unserer Tagesordnung vorgehen.’ Manfred Stolpe entschuldigt sich bei dem Vertreter der Initiative Frieden und Menschenrechte für die Unterbrechung und erteilt ihm das Wort. ‚Wir müssen Maßnahmen vorschlagen’, flüstere ich Joachim Lefèvre zu, ‚falls Verfolgte, Arme und Obdachlose zu uns kommen wollen!’“ Beide Helden des Romans sind sich darin einig, dass man sich von Geschehnissen da draußen jetzt nicht ablenken lassen darf; am nächsten Tag soll schließlich über den neuen Vorsitzenden der Ost-CDU entschieden werden… Erst viel später und nachdem er zwischenzeitlich ins Koma gefallen ist, wird Peter Holtz, dem Ich-Erzähler, klar, dass die Geschehnisse dieses Abends sein Leben und alle dessen Koordinaten von Grund auf verändert haben.

Dieses Kapitel – „in dem es Peter schwerfällt, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren“, wie es in der Überschrift heißt – hat bei allem Aberwitz eine historische Wahrheit auf seiner Seite. Wie man weiß, verkannten viele der idealistischen Oppositionellen, die eine neue DDR im Sinn hatten, zunächst tatsächlich die Eigendynamik, die mit dem Mauerfall in Gang kam, und bei den ersten freien Volkskammerwahlen und im Prozess der Wiedervereinigung spielten sie dann kaum mehr eine Rolle. Doch bloße historische Rekonstruktion scheint nicht das Entscheidende bei dieser Episode und beim ganzen Roman zu sein. Wichtiger ist eine perspektivische Verschiebung, die eine Besonderheit nicht nur dieses Buches von Ingo Schulze darstellt.

Um die Perspektive zu entschlüsseln, muss man sich näher mit diesem Peter Holtz beschäftigen, der da also in der Nacht des 9. November 1989 allen Ernstes damit rechnet, dass die Müseligen und Beladenen der BRD nun in Scharen über die geöffnete Grenze in den Osten strömen werden. Das ist offensichtlich keine realistische Beschreibung irgendeiner politischen Haltung, die es in der DDR zu diesem Zeitpunkt tatsächlich gegeben hat. Peter Holtz ist ein reiner Tor, der in seiner eigenen Welt lebt. Seine Verrücktheit besteht darin, dass er alles, was das System über sich selbst sagt, beim Wort nimmt – und das tut ja sonst kein vernünftiger, halbwegs zurechnungsfähiger Mensch, der quasi automatisch immer schon abrechnet, was bei einer öffentlich gemachten Aussage auf das Konto von Eigeninteresse, Propaganda, kurz: Ideologie geht. Peter Holtz aber ist ein Kind der DDR im buchstäblichen Sinn; im staatlichen Kinderheim „Käthe Kollwitz“ wird es dem Waisenkind zur zweiten Natur, zwischen Ideologie und Ideal keinen Unterschied zu machen. Peter Holtz vereint alle nur denkbaren Unmöglichkeiten in sich: Er ist so stolz darauf, mit der Stasi zusammenarbeiten zu dürfen, dass er das sofort überall weitererzählt; er erfindet aus Versehen den Punk, da er geliebte Hymnen wie „Sag mir, wo du stehst“ im Stimmbruch herausbrüllt; er tritt in die Blockflötenpartei CDU ein, um aus ihren Mitgliedern „Christlich Kommunistische Demokraten“ zu machen.

Der Clou all dieser DDR-Don-Quichotterien aber ist, dass sie nur die Folie darstellen, um die Sprachregelungen und Don-Quichotterien der bundesrepublikanischen Jetztzeit bloßzulegen. Ingo Schulze ist fern davon, sich von einem vermeintlich überlegenen Standort aus satirisch über das Leben einer untergegangenen Welt herabbeugen zu wollen; das wäre ein billiger Triumph der Gegenwart über den Rest der Zeit. Der Roman zielt vielmehr von Anfang an auf den Aberwitz, das Unausgesprochene und Unaussprechbare, mit denen wir es gerade jetzt zu tun haben.

Denn der abrupte Systemwechsel hat eine eigenartige Kommunikations-Konstellation hervorgebracht: Die Bevölkerung Ostdeutschlands trat nicht bloß dem westdeutschen Staat bei, sondern auch der westdeutschen Öffentlichkeit. Sie übereignete im wiedervereinigten Staat den Blick auf sich selbst und auf den Westen dem westdeutschen Landesteil, dessen Definitionen und Selbstbilder von nun an nicht nur maßgeblich, sondern in gewisser Weise auch unaussprechbar und unerkennbar wurden, da sie als Inbegriff der allseits angestrebten „Normalität“ galten. Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev und der amerikanische Rechtswissenschaftler Stephen Holmes machen in ihrem gerade auf Deutsch erschienenen Buch „Das Licht, das erlosch“ diese Gleichsetzung des Westens mit „Normalität“, die nach dem Sturz der kommunistischen Regime einen Mechanismus der Nachahmung in Gang brachte, sogar zum Teil für den anti-liberalen Rechtsruck verantwortlich, der zur Zeit dort stattfindet. Krastev und Holmes gehen so weit, die Normalitätsdoktrin mit den von Czeslaw Milosz in seinem Buch „Verführtes Denken“ von 1953 zitierten Murti-Bing-Pillen zu vergleichen, die Milosz damals als Metapher für die Immunisierung des dialektischen Materialismus „gegen jede Art metaphysischer Bedenken“ gebrauchte. Bis heute ist der gesamtdeutsche Blick auf Deutschland und den Osten in Wirklichkeit ein westdeutscher Blick, und immer wenn sich die Öffentlichkeit mit Sorge über die „ostdeutsche Seele“ beugt, kann die dieser Geste innewohnende westdeutsche Seele sicher sein, ganz unbeachtet zu bleiben.

Diese allgemeineren Betrachtungen sind, wie ich glaube, notwendig, um die besondere Erzählhaltung bei Ingo Schulze in ihrer ganzen List zu würdigen. Mit frontaler Kritik ist dem Kommunikationsgefälle kaum beizukommen. Sie würde immer nur als bestenfalls interessanter Ausdruck eines ostdeutschen Sonderbewusstseins gewertet werden, das in eben ihrer folkloristischen Sonderbarkeit das westdeutsche Gesamtbewusstsein nur bestätigt. Ingo Schulze geht daher den entgegengesetzten Weg: den Weg einer beherzten Affirmation. Er lässt seinen Helden Peter Holtz nicht wie alle anderen aus sozialer Konformität, sondern aus innerster Überzeugung an die Codes der Bundesrepublik glauben, mit der gleichen Inbrunst wie zuvor an die der DDR. Das hat den paradoxen Effekt, dass der Leser auf seine bundesrepublikanische Gegenwart mit nicht geringerer Distanz als auf die vergangene DDR blicken kann. Das Scharnier zwischen den Welten stellen die vergammelten Immobilien dar, die sich der selbstlose Peter in DDR-Zeiten von einer alten Dame aufschwatzen lässt, obwohl er mit den mageren Mieten bei weitem nicht die nötigen Reparaturen zahlen kann. In der Bundesrepublik machen ihn diese Häuser nun plötzlich zum Multimillionär. Er lässt sich zwar zum Privateigentum bekehren, doch an seinem Ziel des wahren Kommunismus hält er fest, den er nun jedoch nicht länger über den Sozialismus, sondern über den Kapitalismus erreichen will. Das Verrückte ist, dass ihm in seiner Naivität alles glückt und er immer reicher und dicker wird. Er macht ein Bordell auf, steckt sein Geld in die irrealsten Projekte, steigt über seine kunsterfahrene Schwester ins Galeriegeschäft ein. Dies alles mindert seinen Idealismus nicht: Je vermögender er wird, desto mehr versucht er, das Geld wieder der Allgemeinheit zuzuführen. Das aber stellt sich als gar nicht so einfach heraus.

Doch man würde das dramaturgische Prinzip Ingo Schulzes unterschätzen, würde man es nur als eine Technik der satirischen Verfremdung verstehen, um die Systeme einander wechselseitig der Lächerlichkeit preiszugeben. Hier wird nichts zurechtgebogen, damit irgendeine These oder Pointe aufgeht. Die Eigenlogik sowohl der DDR wie auch der Bundesrepublik kommen präzise und ohne jede Diffamierung zur Geltung, und das „glückliche Leben“, das der Titel des Romans ankündigt, ist nicht bloß sarkastischer Spott. Nicht unähnlich dem Don Quichotte führt auch Peter Holtz bei allen Widerständen der äußeren Welt gegen seine inneren Visionen ein Leben in Übereinstimmung mit sich selbst, das insofern als durchaus glücklich bezeichnet werden kann.

Es ist überhaupt verblüffend, wie sehr die Romane Ingo Schulzes, so unterschiedlich sie in Bezug auf Tonlage, Sprache und Perspektive sonst sind, in diesem Motiv des „Glücks“ übereinkommen. „Eigentlich sind wir Glückskinder“ heißt es einmal in den „Simplen Storys“ von 1998, und angesichts dessen, wie lakonisch diese Geschichten davon erzählen, wie die D-Mark das Leben vieler Leute in einer ostdeutschen Kleinstadt durcheinanderbringt und sie um viele ihrer Wende-Hoffnungen bringt, erscheint das erst einmal bloß wie der blanke Hohn. Die Menschen reden sich ein, dass sie glücklich sind, weil das einfach zur allgemein akzeptierten Rahmenerzählung gehört, dass das Leben vorher unglücklich war, und jetzt, nach der Wende, glücklich. Das war der Stoff dieser Geschichten, die Redeweisen der Leute, während rings um sie herum ihr Leben in die Brüche ging.

2008, zehn Jahre später, war das Glück dann auf der anderen Seite angesiedelt, und auch das konnte man natürlich nicht beim Nennwert nehmen. In „Adam und Evelyn“ werden die Titelhelden aus einem Paradies vertrieben, als das der wild-verwunschene Garten inmitten der DDR, den sie bewohnen erscheint. Ihnen selbst, die im Zuge der allgemeinen Fluchtbewegungen des Jahres 1989 aus diesem Garten weg irgendwie in den Westen gelangen, ist das nicht bewusst – dem späteren, durch zahlreiche biblische Metaphern gelenkten Leser aber sehr wohl. Die unausgesprochene, jedoch ständig präsente Frage war auch da: Wohin genau wurden sie eigentlich vertrieben, was ist das für eine Welt, in der wir auch jetzt leben? Oder mit den schwergewichtig alttestamentarischen, im Roman aber trügerisch leichthin daherkommenden Worten: „Adam, wo bist du?“

Schon Ingo Schulzes erste literarische Veröffentlichung von 1995 trug das Glück im Titel: Die „33 Augenblicke des Glücks“ erzählten in einem Vexierspiel von deutschen und russischen Erzählmustern und Exotismen von einem ebenso phantastischen wie kalten und katastrophischen St. Petersburg inmitten des Transformationsprozesses. „Frauen wie Maria“, mit denen gleich die erste dieser Geschichten beginnt, verheißen das Glück; „wir könnten zusammenleben“, heißt es von dieser Maria, die „schön bis in die Kniekehlen“ ist und an der Hotelbar „über den Vergleich von Soschtschenkos Sprache mit der Platonows“ spricht, wie Russinnen halt so sind in der westlichen Projektion. Aber wenige Signale reichen aus, um den Leser von Anfang an nicht darüber im unklaren zu lassen, dass es sich da um eine sehr gebildete oder wenigstens geschickte Hotelprostituierte handelt. Der Ich-Erzähler gesteht sich diese Erkenntnis erst später ein, als Maria plötzlich verschwindet, doch der Ton kippt dadurch, und das ist das Interessante, nicht etwa ins Erboste oder Zynische um. Im gleichen Stil warmherziger Verwunderung berichtet der Erzähler am Ende von einem Wiedersehen ein dreiviertel Jahr später am Eingang eines anderen Hotels, bei dem es keine Verstellung und keine falsche Hoffnung mehr gibt, aber auch keine Bitterkeit: „Wir setzten uns in den Innenhof, tranken Kaffee und aßen Bockwurst“, bevor Maria dann wieder „ihre Arbeit wie eine Verliebte“ begann.

Auch hier ist das Glück also nicht einfach das Medium einer platten Art Ironie, die etwa sagen wollte: Das Glück ist nur Täuschung, in Wirklichkeit sind die Menschen unglücklich. Mir will scheinen, in der Art und Weise, wie Ingo Schulze über die Ambivalenz des Glücks und gewissermaßen durch das Glück hindurch schreibt, liegt etwas ganz Besonderes in der Literaturgeschichte – etwas, dessen Zustandekommen ich mir zuerst durch das menschenfreundliche Naturell dieses Autors erkläre und dann durch seine einzigartige Kunst, in diesem vermeintlich sanften Blick auf die Verhältnisse all die Brüche, Verlogenheiten und Katastrophen zur Sprache zu bringen, die einer schablonenhaften Kritik entgehen – und dies, ohne die Menschen in diesen Verhältnissen mit ihren Träumen und Selbsttäuschungen in irgendeiner Weise herabzusetzen. Diese weitherzige Ironie wird auf geradezu schwerelose Weise der Doppelgesichtigkeit des „Glücks“ gerecht: Auf der einen Seite spiegelt das Glück gesellschaftliche Normen und Verhältnisse; zugleich markiert es aber auch die Sphäre eines inneren Vorbehalts, die einzig und allein dem einzelnen Menschen zugehört, und die bisweilen sogar dazu in der Lage ist, gesellschaftliche Widrigkeiten zu absorbieren.

Heute, am 9. November, können wir Ingo Schulzes Ironie des Glücks als Glücksfall feiern, auch wenn es darum geht, das Glück des Mauerfalls gegen die kommunikativen, sozialen und politischen Verwerfungen zu verteidigen, die es mittlerweile bedrohen. Sie unterläuft das Kommunikationsgefälle zwischen West und Ost, indem sie zeigt, zu welch absurden Konstellationen es kommt, wenn man die herrschenden Codes einmal beim Wort nimmt. Und sie vermag den verengt-erstarrten Blick der abgeschotteten ideologischen Lager aufeinander zu weiten, indem sie ihn einbettet in einen multiperspektivischen Sinn für Widersprüche, man könnte auch sagen: für menschliches Leben.

Ich gratuliere Ingo Schulze sehr herzlich zum Werner-Bergengruen-Preis des Jahres 2019!