Preisverleihung 2017 an Szuszanna Gahse
Eckhard Lange: Begrüßung
[Vorstellung von Hesam Asadi, der uns heute an der Kamansche, dem Instrument seiner Heimat Iran, musikalisch begleitet. Herrn Asadi wurde im April dieses Jahres vom Amt für Migration der Status als Flüchtling zuerkannt. Er hat sich in Niedersachsen durch viele Auftritte, u.a. auch vor Ministerpräsident Weil, bereits einen Namen gemacht.]
Eckhard Lange|Foto: Folkert Frels
Es freut mich sehr, meine Damen und Herren, dass ich Sie so zahlreich heute Vormittag begrüßen kann – wer weiß, vielleicht wird die Bergengruen-Preisverleihung tatsächlich noch zu einem Uelzener Event.
Zuvörderst gilt mein Gruß aber den zwei Personen, die diesen Vormittag prägen werden: der Trägerin des Werner-Bergengruen-Preises 2017 Zsuzsanna Gahse und ihrem Laudator Nico Bleutge. Nicht alle Tage kommen gleich zwei frisch gebackene Preisträger nach Uelzen. Zsuzsanna Gahse erhielt dieses Jahr ja auch noch den Italo-Svevo-Preis zugesprochen, und Nico Bleutge wurde erst gestern mit dem Kranichsteiner Literaturpreis geehrt. Er musste sich heute schon um fünf Uhr früh in Darmstadt auf den Zug begeben – und, Sie sehen, er hat es geschafft. Herzlich willkommen in der Hansestadt Uelzen, Zsuzsanna Gahse und Nico Bleutge!
Ich bin oft gefragt worden, was Werner Bergengruen, der aus dem Baltikum stammende Lyriker, Novellist, Romancier, Reiseschriftsteller und Essayist, der nach dem zweiten Weltkrieg noch zu den weltweit meistgelesenen deutschen Autoren zählte, mit Uelzen zu tun hat. (Ich darf bei dieser Gelegenheit den politischen Repräsentanten der Hansestadt Uelzen, Herrn Bürgermeister Jürgen Markwardt, ganz herzlich unter uns begrüßen.) Was also hat Bergengruen mit Uelzen zu tun? Meine Recherchen haben ergeben, dass er nirgendwo einen Besuch in Uelzen erwähnt hat, obwohl seine Deutsche Reise ein Kapitel über die Lüneburger Heide enthält und auch Lüneburg an einem Regentag beschreibt. Der Name „Uelzen“ taucht nur einmal auf in seinem Buch Badekur des Herzens (dessen ursprünglichen Titel Baedecker des Herzens die Firma Baedecker untersagt hat). Und dieser Name steht da in einem Kapitel mit der bezeichnenden Überschrift „Ortschaften der Geheimnisse“, und er steht da auch nur unter anderem, im Zusammenhang mit einem anderen Namen: Kreiensen. Ich lese daraus mal ein paar Stellen vor und Sie mögen entscheiden, ob Sie Analogien, vielleicht sogar Parallelen erkennen können:
Zahllose Orte kennen wir, aber es gibt noch andere. Es gibt Orte, die ewig im Dunkeln bleiben, im Rätsel und im Geheimnis. Und doch kennt jeder ihren Namen, kennt sie aus Kursbüchern, von Fahrkarten und Reisebüros.
Da ist Kreiensen. Wenn man vorüber fährt, ist es immer Nacht. Kommt man tags vorbei, etwa auf der Reise von Hamburg nach Basel oder von Magdeburg nach Köln, so drängen sich die Umsteigenden im Gange und verdecken die Fenster. Noch nie habe ich von Kreiensen mehr zu sehen bekommen als den Bahnsteig, den Eingang zum Wartesaal, ein Mädchen mit Bier und einen Jungen mit Zeitungen.
Ist Kreiensen eine Stadt, ein Dorf? Hat es überhaupt Realität oder ist es nur eine Fiktion, ein mathematischer Begriff, Schnittpunkt zweier Linien? Eine halb von Willkür, halb von Gesetzmäßigkeiten diktierte Annahme, etwa wie ein Meridian, wie der Aequator, die Erdachse, der Index der Lebenshaltungskosten […]
Und wenn es eine Stadt ist, so ist es vielleicht eine schöne Stadt. Wie müsste es im Idiom der Reisehandbücher heißen? Ist es vielleicht die Perle des Landes Niedersachsen oder nur die Perle der D-Zugstrecke Hamburg-Basel. Hat es Industrie? Wird da vielleicht geklöppelt? Hat es ein Denkmal? Einen großen Sohn? Vielleicht sogar einen größten? Gibt es da ein vornehmes, stillgewordenes Biedermeierhaus mit der Gedenktafel: „Hier lebte…von…bis…“[…]
Gibt es vielleicht eine Schlacht bei Kreiensen? Oder ein Volkslied: Nun wölln wir aber heben an | Von Kreiensen, der edlen Stadt…
Und die Einwohner? Sagt man Kreienser oder Kreiensener oder gar Kreiensenenser? Wie merkwürdig müsste das sein: eine Reisebekanntschaft, ein wohlbeleibter Herr mit rötlichblondem Schnurrbart, gesunder Gesichtsfarbe und einem grauen Sportanzug von der Art, die immer im Speisewagen sitzt, helles Bier trinkt und Schinkenbrötchen isst. Man wechselt ein paar Worte, und plötzlich erfährt man: er ist Tierarzt in Kreiensen. Oder in irgendeiner der Städte, in denen es so viele Pensionäre gibt, vielleicht in Lausanne oder Genf, trifft man ein Kind, ein rehzartes Mädchen mit Tränen in den großen, braunen Augen, und man erfährt: es hat Heimweh, Heimweh nach Kreiensen.
Gibt es das? Wenn Kreiensen aber doch nur der Schnittpunkt zweier D-Zugstrecken ist…
Sollten diese Zeilen einem Kreienser (siehe oben) zu Gesicht kommen, so möge er sich aufgefordert fühlen, mich brieflich zu belehren, was es mit Kreiensen für eine Bewandtnis hat.
Kreiensen? Ach, Kreiensen ist ja nur ein Beispiel, und vielleicht gar nur ein Symbol. Da sind noch Uelzen und Bebra und Elm, Attnang und Turgi, Treuchtlingen, Osterburken, Buchloe und Troisdorf. Schreibt mir alle, ihr, die es angeht!
Nun ja, heute trifft die Beschreibung von etwa 1930 natürlich überhaupt nicht mehr zu. Uelzen hat den Hundertwasserbahnhof und ist Hansestadt und ist Sitz der Werner-Bergengruen-Gesellschaft (das hätte der Namensgeber sich damals gewiss nicht träumen lassen!). Und in dieser Stadt wird seit 2009 alle zwei Jahre der Werner-Bergengruen-Preis verliehen, worauf inzwischen auch die überregionale Presse hinweist (z.B. dieses Jahr die FAZ und die Süddeutsche). Die Bergengruen-Gesellschaft kann sich diese Preisverleihung nicht aus eigener Kraft leisten. Sie ist zwar international aufgestellt, aber keineswegs begütert, und also darauf angewiesen, dass ihr immer wieder unter die Arme gegriffen wird. Dieses Jahr stiftet nun schon zum dritten Mal Dr. Dirk Ippen das Preisgeld, der Verleger der Allgemeinen Zeitung der Lüneburger Heide, dessen Video-Botschaft wir gleich sehen und hören werden. Herzlichen Dank nach München! Begrüßen darf ich von der AZ auch Folkert Frels und Horst Hoffmann. Letzterer sorgt in seinem Heidewanderer immer wieder für die Dokumentation unserer Preisverleihungen. Auch die Uelzener Versicherung gehört zu unseren Unterstützern; sie ermöglicht uns die Werbung für die Weingeister-Lesungen, und ich begrüße unter uns ihren Direktor Dr. Theo Hölscher mit seiner Frau und sage: Dankeschön!
Eine weitere häufig gestellte Frage lautet: Wie kürt die Bergengruen-Gesellschaft ihre Preisträgerinnen und Preisträger und was verbindet diese mit Werner Bergengruen? Nun, wir suchen sie uns nicht selbst aus, sondern können uns dabei auf eine kompetente Jury stützen, zu der von Anfang an Wend Kässens, der ehemalige Literaturchef des NDR-Hörfunks, und seit längerem Dr. Tilman Spreckelsen, Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, gehören. Dazu gebeten wird der oder die vorangegangene Preisträger/in, dieses Jahr Felicitas Hoppe. Wend Kässens kann heute nicht hier sein, weil er als geschäftsführender Vorstand beim Deutschen Literaturfond im Zusammenhang mit der Preisverleihung an Nico Bleutge noch auf der Darmstädter Mathildenhöhe festgehalten wird. Felicitas Hoppe schrieb mir vor kurzem:
Den 18te November habe ich keinesfalls vergessen, er steht schon lange in meinem Kalender, aber wie ich schon befürchtet hatte, werde ich noch bis Ende November vollauf mit dem Endlektorat meines aktuellen Manuskripts befasst sein, und da zählt jeder einzelne Tag.
Ich habe bereits an der Akademietagung mit Frau Gahse darüber gesprochen und bedaure sehr, den Termin nicht wahrnehmen zu können, denn sie ist eine sehr besondere Preisträgerin, und ich hätte sie gern, zusammen mit Ihnen und Ihrer Frau, gebührend … gefeiert.
So bleibt mir nur, Sie um Nachsicht und Verständnis zu bitten! Ich werde aus der Ferne mein Glas auf Sie und die Preisträgerin erheben…
Der Dritte im Bunde, Tilman Spreckelsen, ist eben von Rendsburg kommend hier eingetroffen. Herzlich willkommen in Uelzen!, Herr Dr. Spreckelsen.
Meine Damen und Herren! Es war noch bei keiner oder keinem unserer Preisträgerinnen und Preisträger schwer, eine Verbindung zu Werner Bergengruen herzustellen. Sie alle – Svenja Leiber, Peter Kurzeck, Kurt Drawert, Felicitas Hoppe – zeichnet ein besonderer Zugang zur deutschen Sprache und ihren immanenten poetischen Möglichkeiten aus. Bergengruen, dessen widerständischen Schüttelreime während des Dritten Reiches die Münchner „Zwanglose Gesellschaft“ entzückten, bekannte sich ausdrücklich auch zu Sprachspielereien. In seiner Aphorismen-Sammlung Compendium Bergengruenianum lesen wir: Nur wer wirklich mit der Sprache vertraut ist wie ein Liebender mit seiner Geliebten, ein Kind mit seiner Mutter, der darf mit ihr spielen; ja, er wird dem Trieb zu solchem Spiel garnicht widerstehen können. Wir erinnern uns an Schillers Aufsatz „Anmut und Würde“ – da sagt er, nirgends sei der Mensch so ganz Mensch wie im Spiel, und erklärt das ohne äußeren Zweck oder moralischen oder gar politischen Auftrag – gewissermaßen spielerisch – zustande gekommene Kunstwerk zum Inbegriff der Freiheit. Ohne der Laudatio von Nico Bleutge vorzugreifen, darf von Zsuzsanna Gahse gesagt werden, dass ihre zwischen Lyrik und Prosa changierenden Texte eine ganz besondere Liebe zur Sprache auszeichnet, wohlgemerkt zur deutschen Sprache, zuletzt in dem Band Siebenundsiebzig Geschwister, Wien 2017, niedergelegt, obwohl auch sie, wie unser Kamansche-Spieler, allerdings in sehr frühen Jahren, als Migrantin nach Deutschland kam. Sie ist auch eine gefragte Übersetzerin, aber für ihre eigenen poetischen Erzeugnisse hat sie sich die deutsche Sprache gewählt. Das befähigt sie zu einer Liebe und Behutsamkeit, wie man sie bei in Deutschland Geborenen nur selten findet. Ich denke immer deutsch, sagt sie, bin also liiert mit der deutschen Sprache und gerade, weil ich nicht so hundertprozentig eine Deutsche oder eine Schweizerin bin, kann ich sagen, dass mir diese Sprache sehr gut gefällt.
Zsuzsanna Gahse ist 1946 in Budapest geboren, floh mit ihren Eltern 1956 nach dem Ungarnaufstand nach Wien und eignete sich dort und in Kassel auf dem Gymnasium die deutsche Sprache an. Seit 1969 veröffentlicht Zsuzsanna Gahse literarische Arbeiten und zeigt sowohl als Autorin von mehr als zwanzig Büchern als auch als Übersetzerin der bedeutendsten Schriftsteller der ungarischen Gegenwartsliteratur eine subtile Kunstfertigkeit und eine spürbare Lust an der Arbeit mit Texten. Von 1989 bis 1993 war sie Lehrbeauftragte an der Universität Tübingen, 1996 übte sie eine Poetik-Dozentur an der Universität Bamberg aus. Zsuzsanna Gahse ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und des PEN-Zentrums in Deutschland und der Schweiz, wo sie heute lebt. Die Werner Bergengruen-Gesellschaft schätzt sich glücklich, Zsuzsanna Gahse in die Reihe der Bergengruen-Preisträgerinnen und – Preisträger aufnehmen zu dürfen.
Bevor wir nun zum Grußwort von Dr. Ippen kommen, möchte ich mich bei Almke Matzker-Steiner bedanken, die uns wieder diesen Raum der Kreisvolkshochschule zur Verfügung gestellt und das nötige Equipment besorgt hat.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.