Werner Bergengruens Leben und Werk
von Katia Bergmann
„Jeder Bär brummt nach der Höhle, in der er geboren ist.“
Mit diesem Zitat Goethes, welches Werner Bergengruens erster autobiografischer Schrift „Bekenntnis zur Höhle“ (Nachwort in „Die Feuerprobe“, S. 58) vorangestellt ist, bekennt sich der Dichter nicht nur zu Goethe, sondern auch zu seiner baltischen Heimat. Die „livländische Höhle“ wird den zweitgeborenen Sohn des baltendeutschen Arztes Paul Bergengruen und dessen Frau Helene biografisch, poetisch und politisch zeitlebens begleiten. Am 16.9.1892 erblickt Werner Bergengruen, der seinen Namen dem Trompeter von Saeckingen zu verdanken hat, in einem mittelalterlichen Haus der Rigaer Altstadt das Licht der Welt. Er wächst mit seinen beiden Brüdern in einem traditionellen Haus auf, in dem beispielsweise die Sonntagsandachten zum „patriarchisch überlieferten und pietätvoll gehüllten Lebensinventar“ (Dichtergehäuse, S. 20) des jungen Bergengruen werden. Die Rigaer Kindheit und Sommermonate auf dem Land bei Olaine gehen vielerorts in das Gesamtwerk des Dichters ein. Skurrile, typisch baltische Figuren, familiäre Traditionen, die Bilderwelt des Nordens und der russische Mensch prägen nicht nur frühe Texte Bergengruens. Vor allem in der märchenhaften, spukigen Kurzprosa verarbeitet er später die Schauplätze seiner Kindheit. In diese Zeit verortet Bergengruen auch sein erstes dichterisches „Werk“. In seinen autobiografischen Aufzeichnungen „Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens“ (1992) beschreibt er rückblickend und mit einem gewissen Augenzwinkern die Entstehung seiner ersten Dichtung; einer Grabrede für eine Maus, die der Sechsjährige mit großer Ernsthaftigkeit verfasst hat.
Zunächst erhalten Wolfgang, Werner und der Letztgeborene Olaf Privatunterricht, bevor die beiden Ältesten 1903 ins „Reich“ geschickt werden, um am renommierten Lübecker Katharinäum eine statthafte Ausbildung zu erhalten. Dass die Eltern ihre Söhne vor dem drohenden Panslawismus bewahren und ihnen eine Ausbildung, in der Deutsch als Unterrichtssprache untersagt ist, nicht zumuten haben wollen, die Unruhen im Land zugenommen haben und der Vater deswegen das Ende der patrizisch, aristokratischen Lebensform der Deutschbalten befürchtet hat, gestand sich Werner Bergengruen erst später ein. Für den Elfjährigen hingegen war es nicht verständlich, wie seine Eltern einen „nicht nachvollziehbaren […] abstrakten Vaterlandsbegriff“ (Lebensbild, S. 2) dem „Konkreten“ (Lebensbild, S. 2) der „so geliebten Heimat“ (Lebensbild, S. 2) opfern konnten. Ihn schockiert dieser wohlgemeinte Akt zutiefst und er empfand seine erste „Verpflanzung“ als „Deportation“ (Dichtergehäuse, S. 51). Zunächst fühlte sich der Knabe in der traditionellen Lehranstalt recht aufgehoben, doch in der Unterrichtspraxis „[…] wurden alle Lyrismen und Geistreicheleien unbarmherzig ironisiert“ (Dichtergehäuse, S.64). Hier erwachsen sowohl Werner Bergengruens bleibende Abneigung gegen das institutionelle Lernen als auch seine ersten ernsthaften poetische Versuche.
Nicht nur den Söhnen fällt die Anpassung außerhalb der baltischen Heimat schwer. Als 1909 die Mutter mit den jüngeren Geschwistern übersiedelt – der Vater eröffnet zunächst eine Praxis in Wladiwostok und folgt erst später nach – spüren die Eltern schnell die „Kümmerlichkeit des enger gewordenen Lebens“ (Das Geheimnis verbleibt, S. 64). Als Paul Bergengruen plant, ein deutsches Examen zu absolvieren, um in der neuen Heimat als Arzt praktizieren zu können, bezieht die Familie in Marburg ein altes Fachwerkhaus in der Kugelgasse. Der Wasserpfeife rauchende Bergengruen erregt in der Stadt mit seiner verbeulten, verblichenen Schiebermütze, einem Kneifer und seinem auffällig hohen Stehkragen sowie seinen Spitzenschuhen Aufsehen. Schon früh bietet er ein Bild von „Würde und Unnahbarkeit“ (Lebensbild, S. 3). 1910 verlassen die Eltern Marburg, um in Bad Kissingen eine Praxis zu übernehmen. Für das letzte Abiturjahr beherbergt ihn die Schriftstellerin Agnes Günther, deren Söhne ebenfalls das Katharinäum besuchen und sich mit dem Deutschbalten angefreundet haben. Vom bohemienhaften, ungezwungenen Leben im Hause Günther, in welches ihre ältere Schwester eingeheiratet hat, fühlt sich die damals dreizehnjährige Charlotte Hensel (1896-1990) geradezu angezogen. Der Schreibmaschine mächtig, wird die junge Frau unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit auserkoren, einige Gedichte des jugendlichen Bergengruen abzutippen, damit sie der Marburger Zeitung überstellt werden können. Nicht nur dessen Lyrik, sondern auch die erste Begegnung mit dem extravagant auftretenden Abiturienten hinterlassen bei der jungen Frau einen tiefen Eindruck.
Doch auch in Marburg belasteten den jungen Bergengruen die engen Verhältnisse. Ihm fehlt die östliche Weitläufigkeit. Nach einem notdürftigen Abitur 1911 und dem Beginn eines geisteswissenschaftlichen Studiums verlässt Bergengruen die Stadt der Jugend, geht nach drei Semestern an die Ludwig-Maximilian-Universität nach München und wechselt dort das Studienfach von Theologie auf Germanistik und Kunstgeschichte. Auch hier genießt der junge Balte das studentische Leben und befriedigt seine Reiselust durch zahlreiche Exkursionen, wie beispielsweise mit seinem ersten Besuch in Rom. Bergengruen wechselt erneut den Studienort. Ein erstes Mal beherbergt ihn Berlin. Sein Studium dort muss er allerdings im siebten Semester aufgrund des Kriegsausbruches abbrechen.
Sofort nach der Kriegserklärung melden sich die Bergengruen-Söhne im September freiwillig an die deutsche Front. Werner Bergengruen verbleibt, im Gegensatz zu seinen beiden Brüdern, die ganze Dauer des Krieges im Osten. Zunächst übernimmt er als Stoßtruppführer bei der Kavallerie Einsätze im Baltikum. Durch sein rasch absolviertes Dolmetscherexamen in Russisch und Lettisch verbessert sich einerseits sein militärischer Rang, andererseits werden ihm aufgrund seiner sprachlichen Fähigkeiten zunehmend gefährlichere Aufgaben übertragen. Der junge Soldat erhält ab dem dritten Kriegsjahr immer wieder den Auftrag, zu Granatlöchern der feindlichen Schützengräben vorzudringen, um Muschkoten mit Schnaps, Zigarren und anderen Genussmitteln anzulocken, diesen dann eine „Injektion für revolutionäre Gesinnung zu verpassen“ (Lebensbild, S. 7) und letztlich damit die Moral der Gegner zu schwächen. In diesem Krieg verliert Bergengruen beide Brüder. Sie kommen in der Nähe von Armentières an der belgischen Grenze bei Lufteinsätzen ums Leben. Nach Kriegsende kehrt Bergengruen nicht sofort nach Deutschland zurück. Als im Januar 1918 die Ukraine von Deutschen besetzt wird, begibt er sich in den Dienst des Auswärtigen Amtes in Kiew und arbeitet in der „Kommission zur Ausfindigmachung und Inventarisierung von Ingenieur-Gerät“ (Comp. 1041, 1949). Nur unter beschwerlichen und glücklichen Umständen gelingt es dem jungen Mann im Mai 1919, die kurze Zeit darauf von den Bolschewisten besetzte Hauptstadt der Ukraine zu verlassen. „Enttäuscht, desillusioniert und empört über die zahlreichen bolschewistischen Morde an Verwandten und Freunden im Baltikum […]“ (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens, S. 18) kehrt er nach Marburg zurück. Die vaterländische Liebe zum Baltikum veranlasst den jungen Mann, trotz seiner Verlobung mit Charlotte Hensel, nur wenige Tage darauf in die Baltische Landeswehr einzutreten, um mit Gleichgesinnten die Heimat von den Bolschewisten zu befreien. Dem „kleinsten Heer der Welt“ gelingt es am 22.5.1919 gar, Riga für kurze Zeit zu befreien. Nach einem zweiwöchigen Urlaub im Herbst 1919, während dem sich Charlotte Hensel und Werner Bergengruen in Marburg vermählen, kann er wegen der heranrückenden bolschewistischen Truppen seine Formation nicht mehr erreichen. Auch die Baltische Landeswehr muss sich langfristig den Bestimmungen der Nachkriegsordnung fügen. Durch den „Zusammenbruch eines ganzen Weltgebäudes von Ordnungs- und Lebensprinzipien“ (Köpfe des XX. Jahrhunderts. Band. 52., S 29) ist der Zwanzigjährige Gequälter, Suchender und Verlorener zugleich. Der Krieg führt für fast alle Deutschbalten zur Degradierung zu „Grenzdeutschen“ (Comp. 875, 19).
Auch das junge Paar blickt einer ungewissen Zukunft entgegen, denn Bergengruen ist mittellos, hat keinen Brotberuf, und zudem steckt Deutschland mitten in der Inflation. Nachdem sich der junge Mann wenige Monate allein in Berlin aufhält, um journalistische Aufträge für Ostfragen zu übernehmen, beginnt für ihn und nun gleichwohl für seine Frau Charlotte das Nomadenleben. Mit zwei Koffern, gefüllt mit Manuskripten, Büchern und ein wenig Kleidung, reisen sie zwischen Berlin, Marburg, Tilsit, Memel oder Danzig umher und finden Unterkunft bei Verwandten und Bekannten. In diese finanziell schwere Zeit hinein wird im August 1920 der erste Sohn Olaf geboren, der nur eineinhalb Monate später stirbt.
Ende 1920 wird das junge Paar allmählich sesshaft in Berlin, für Werner Bergengruen „[…] die Stadt der zu Ende gehenden Jugend, die Stadt des Hinübertritts ins eigentliche Mannesalter“ (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens, S. 92). Zunächst erhält er als freier Mitarbeiter bei einer Zeitschrift, die sich mit Ostfragen beschäftigt, einen kleinen Verdienst und ihm gelingt der Vorabdruck seines Romans „Das Gesetz des Atum“ (1921) in der Frankfurter Zeitung. Seine Einkünfte fallen jedoch den inflationären Zeiten zum Opfer. Im Jahr 1923 erscheinen dann die ersten beiden Bücher Bergengruens. Doch bringen der Roman „Das Gesetz des Atum“ (1923) und der Novellenband „Rosen am Galgenholz“ (1923) noch immer nicht den erhofften Ertrag. Nach Einführung der Rentenmark besitzt das junge Paar gerade einmal 156 Rentenmark. Als sich 1923 ein weiteres Kind (Luise Nino Hackelsberger, 9.3.1924) ankündigt, fühlt sich der junge Mann ein erstes und auch letztes Mal verpflichtet, sich in ein festes Arbeitsverhältnis zu begeben. Seine Stellung als Hauptschriftleiter bei den „Baltischen Blättern“ kündigt er jedoch schon vier Monate später wieder auf, da er unter dem Zwang der Bürostunden und den Schreibvorgaben gelitten hat. Mit weiteren Honoraren, die die 1924 herausgegebene Lyriksammlung „Baltisches Dichterbrevier“ und der 1923 zusammengestellte Novellenband „Schimmelräuter hat mich gossen“ eingebracht haben, können sich die Bergengruens gerade einmal ernähren. Die Entscheidung, die Werke großer russischer Klassiker (z. B. Tolstois „Hadschi-Murad“ und „Die Kosaken“, Dostojewski „Der Idiot“ oder „Schuld und Sühne“ sowie Turgenjews „Väter und Söhne“) ins Deutsche zu übersetzen, ist nicht nur eine materielle, sondern auch eine Herzensentscheidung. In Ehrfurcht vor der dichterischen Leistung und mit einem Gefühl innerer Verwandtschaft, ist es Bergengruens Ziel, „magisches Zeugnis abzulegen“. (Kern der Welt, S. 9) In den frühen unsteten Berliner Zeiten begibt sich die Familie, das Kind im Gepäcknetz (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens, S. 20), erneut auf Reisen. Im Sommer 1925 sind die jungen Eltern unter anderem bei Verwandten im hessischen Lindenfels, nahe der Burgruine Rodenstein zu Gast. Ein halbes Jahr lang durchstreift Bergengruen das „rodensteinische Spukland“ (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens, S. 20) und verarbeitet all das, was der mystisch angereicherte Raum bietet, in seinem Erzählband „Das Buch Rodenstein“ (1927). Diese Sammlung ist Ausdruck der frühen dichterischen Phase des Deutschbalten. Seine ausgesprochene Affinität zu Themen und Vertretern der Schauerromantik sowie zum Übersinnlichen und Skurrilen prägt in der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre seine „okkult-spirituelle Phase“. Hierzu gehören der bereits erwähnte phantastisch-abenteuerliche Studentenroman „Gesetz des Atum“ (1923), die übersinnlichen Wesen im Novellenband „Rosen am Galgenholz“ (1923) oder die Rodenstein‘schen Spukgeschichten. „Das große Alkahest“ (1926, überarbeitete Fassung 1938 unter dem Titel „Starost“), in dem Bergengruen einen Vater-Sohn-Konflikt ins Kurland des 18. Jahrhunderts trägt, ist wohl das charakteristischste Werk dieser Periode. Mit Studien und späteren Herausgeberschriften zu E.T. A. Hoffmann, Jean Paul und Eichendorff zollt er den romantischen Dichtern seine Ehrerbietung.
Mit nunmehr drei Kindern – Tochter Maria und Sohn Alexander kommen 1928 und 1930 zur Welt – werden die Eheleute 1927 erstmalig sesshaft. Mit der Unterstützung durch Charlotte Bergengruens Familie erwirbt das Paar für 4000 Reichsmark ein kleines Reihenhaus in der Riemeisterstraße 107 in Berlin/Zehlendorf und führt nach acht Ehejahren das erste Mal ein möbliertes Dasein. Die gerade fertig gestellte farbenfrohe Flachdachsiedlung „Onkel-Toms-Hütte“ erregt aufgrund ihrer unkonventionellen Architektur mancherlei Ärgernis, doch fühlen sich die Bergengruens in der vornehmlich von Emigranten, Kommunisten und Künstlern bewohnten Siedlung schnell wohl. Der Deutschbalte findet Anschluss bei Intellektuellen aus der unmittelbaren Nachbarschaft und der Umgebung. So entstehen feste Freundschaften zu Horst Lange und Oda Schäfer, zu Jochen Klepper oder den Huchels in Michendorf. Neben regelmäßigen Treffen von Literaten im Romanischen Café knüpft Bergengruen auch Kontakt zu Mitarbeitern des Verlages „Rabenpresse“, in dessen Literaturzeitschrift „Der weiße Rabe“ er später Gedichte veröffentlicht. Die Zeit bis zum Ausbruch des Nationalsozialismus bezeichnet Charlotte Bergengruen als ihre „heitersten und unbeschwertesten Jahre“ (Lebensbild. S. 11), die auch die Produktivität des Dichters wieder anregt. In dieser Berliner Phase entstehen die drei großen Zwischenromane Bergengruens. Im Gegenwartsroman „Der goldene Griffel“ (1931) verarbeitet er die Inflationszeit sowie deren Auswirkungen und in den beiden historischen Romanen „Kaiserreich in Trümmern“ (1927) und „Herzog Karl der Kühne oder Gemüt und Schicksal“ (1930, 2. Fassung 1943) führt er seinen Lesern die Gefahren politischer Unfähigkeit und die Wirksamkeit menschlicher Tugenden vor. Zudem beginnt der Dichter in dieser Zeit die Arbeit an seinen großen Problemromanen. Die Großstadt liefert dem Dichter Anregungen und Anstoß für die Auseinandersetzung mit dem Thema der Furcht. Aus einem Zeitungsbericht über das bevorstehende Sintflut-Ereignis aus dem Jahr 1524 gewinnt er den Stoff für eines seiner bedeutendsten Werke: „Am Himmel wie auf Erden“ (1940). Ab dem Sommer 1931 setzt er sich intensiv mit dem Wendischen Volksstamm, der um das alte Berlin und Kölln ansässig gewesen ist, der mythischen Welt der Mark Brandenburg und der Astrologie auseinander. Schon vor der nationalsozialistischen Machtübernahme entstehen Teile seines zweiten großen Romans. Als „Der Großtyrann und das Gericht“ 1935 fertiggestellt ist, verstehen Gegner der Diktatur einerseits die Anspielung auf die Gefahren des Machtmissbrauches, andererseits feiern Regimetreue Bergengruens Roman als den „Führerroman der Renaissance“. Dieses Urteil des Völkischen Beobachters sollte Bergengruen in näherer Zukunft noch mancherlei Dienst erweisen. In die Anfangszeit der dreißiger Jahre ist letztlich auch die klassische Novellenphase des Deutschbalten zu verorten. In Einzelausgaben und Sammelbänden erscheinen die bekanntesten Novellen Werner Bergengruens, wie zum Beispiel „Die Feuerprobe“ (1933), „Die drei Falken“ (1937) oder die in der Sammlung „Tod von Reval“ (1939) zusammengefassten Kuriositäten aus einer alten baltischen Stadt.
Die literarischen Erfolge sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl der Dichter Bergengruen als auch die Familie zunehmend Gefahren ausgesetzt sind. Obwohl sich der Deutschbalte 1932 noch an einem offiziellen Schreiben aus konservativen Kreisen beteiligt, in dem Wähler dazu aufgerufen werden, Hindenburg und nicht Hitler zum Reichskanzler zu wählen, findet Bergengruen zunächst wenig Beachtung bei den nationalsozialistischen Behörden. Sie lassen ihn bis auf „gelegentliche Anrempelungen im Ganzen noch einigermaßen gewähren.“ (Comp. 912, 1946) 1937 ereilt ihn dann allerdings doch der befürchtete Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer. Diesen und das damit verbundene Schreib- und Veröffentlichungsverbot begründet die Behörde mit dem Urteil, dass seine Werke nicht geeignet seien, durch schriftstellerische Veröffentlichung am Aufbau der deutschen Kultur mitzuarbeiten. Trotz einer vorübergehend erteilten Sondergenehmigung verliert der Dichter zunehmend die Möglichkeit der direkten Mitteilung. Zwar erscheinen in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre noch die beiden großen Romane und einige Novellen, doch machen Papierknappheit und permanente Überwachung weitere Veröffentlichungen unmöglich. Wie vielen anderen daheimgebliebenen Autoren bleibt Bergengruen nur noch das anonyme Veröffentlichen, das heimliche Vervielfältigen und Verbreiten oder private Lesungen im kleinsten Kreis. Das friedliche Zusammenleben der Familie wird durch das Ausbreiten des „braunen Terrors“ sowie durch das zunehmend aggressivere Vorgehen gegen den jüdischen Teil der Bevölkerung gestört. Als Mendelssohn-Nachkommin gilt Charlotte Bergengruen als Halbjüdin und kann demnach keinen Arier-Nachweis erbringen. Die Ehe mit einem Arier kann sie nicht mehr lange schützen. Dies ist einer der Beweggründe des Paares zur Konversion, die sie bewusst zeitlich mit ihrer Übersiedlung nach Solln bei München Ostern 1936 verbinden. In der katholisch geprägten Umgebung erhoffen sie sich Schutz. Bergengruens Übertritt von der protestantischen zur katholischen Konfession muss allerdings auch als bereits lang bestehender Wunsch verstanden werden. Schon in der Kindheit prägen ihn die russisch orthodoxen Gottesdienste und der Dichter selbst sieht sich, mit seiner Liebe zu den Heiligen und den Sakramenten, von Natur aus als „katholische[n] Menschen“ (Comp. 990, 1948), der schon Jahrzehnte lang geistig in der katholischen Welt gelebt hat.
Trotz aller Entbehrungen und Gefahren wählen die Bergengruens nicht den Weg ins Exil, zum einen aus „Solidarität mit Heimgesuchten“ (Dichtung als Kulturvermittlung , S. 15) und zum anderen weil der Deutschbalte des Englischen kaum mächtig ist, die finanziellen Mittel fehlen und eine Ausreise für Charlotte Bergengruen nahezu unmöglich ist. Über das gesamte „verfluchte Jahrzwölft“ hinweg behält der Dichter „künstlerische Distanz“ (Köpfe des XX. Jahrhunderts. Band. 52, S. 13) zum Regime und bleibt unkorrumpiert. Er beurteilt es als ein „Geflecht von Ursachen und Wirkungen“ (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens; S. 161), in dem sich das „Gemisch von mala und bona fides“ (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens; S. 161) bis zur Unauflöslichkeit „verfilzt“ (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens; S. 161, und versucht mit seinen Werken aufzurütteln, Trost zu spenden und dabei behilflich zu sein, die Furcht zu überwinden.
Die Einkünfte aus dem Verkauf des „Großtyrann“ bieten endlich die Möglichkeit, den Gefahrenherd Berlin zu verlassen und die Familie in Sicherheit zu bringen. Die Eheleute erwerben, wieder mit Hilfe der Eltern Charlotte Bergengruens, von der Witwe eines Farbenhändlers ein Haus in der Hirschenstraße 36 in Solln bei München, in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs. Am 24. März 1936 siedelt die Familie unter beschwerlichen und risikoreichen Umständen nach Bayern über. Sowohl die Anmeldung als auch Einschulung der Kinder, welche ebenfalls keinen Arier-Nachweis erbringen können, verlaufen relativ problemlos. In unmittelbarer Umgebung wohnen auch baltische Freunde, wie Otto von Taube in Gauting oder Rolf von Hoerschelmann und Fred Ottow in München. Durch die väterliche Freundschaft zu Carl Muth, der in der Nachbarschaft wohnt, kommt Werner Bergengruen in Kontakt mit dem katholischen Widerstand um die „Weiße Rose“ und mit der regimekritischen Zeitschrift „Hochland“ um Karl-Theodor Haecker. Die Eheleute begeben sich in höchste Gefahr, als sie Flugblätter und Gedichte abschreiben, vervielfältigen und des Nachts auf Münchner Briefkästen verteilen oder die Geschwister Scholl als Gäste in ihrem Haus beherbergen. Die Verschärfung der jüdischen Hetze nach der Reichspogromnacht vom 9. September 1938 oder den Abschluss des Nichtangriffspakts im August des selben Jahres, den Bergengruen als schmerzlichen Verrat an einem 700 Jahre alten deutschen Territorium empfunden hat, schüren einerseits neue Ängste, motivieren den Deutschbalten andererseits dazu, mit neuen dichterischen Aussagen und „[…] den Waffen des Gedankens und des Wortes gegen die Tyrannei zu kämpfen.“ (Lebensbild, S. 16) Mit der Hilfe von Graf Paul von Thun gelingt ihm beispielsweise die risikoreiche anonyme Veröffentlichung seines Gedichtbandes „Der ewige Kaiser“ (1937) beim Filipp-Schmidt-Deyter Verlag in Graz. Nach dem Anschluss Österreichs und der unmittelbaren Ermittlung der Gestapo können er und seine Mittelsmänner nur durch großes Glück und Bergengruens sprachliche Gewandtheit einer Verhaftung entgehen. Sein 1940 fertiggestellter Roman „Am Himmel wie auf Erden“ kann noch fast ein Jahr lang verlegt werden, doch nicht nur wegen der zunehmenden der Papierknappheit wird der Verkauf eingestellt, denn am 17. Juni 1940 geht bei der Münchner NSDAP ein Schreiben ein, dass Werner Bergengruen „politisch nicht zuverlässig“ (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens, S. 136) sei. Diesem Ereignis sind bereits Erkundungen über die Ehefrau des Dichters vorausgegangen. Glücklicherweise antwortet die Ortsbehörde in Solln auf die schriftliche Nachfrage des Berliner Sittenamtes bezüglich der Abstammung Charlotte Bergengruens mit der Auskunft: „Die Ehefrau des Schriftstellers Werner Bergengruen ist katholischer Abstammung“ (Jahrgang 24. Weiblich. Kein Roman, S. 44). Auch dieses Mal entgeht die Familie der Katastrophe, doch Charlotte Bergengruen drohen durch die Wannsee-Beschlüsse, die vor allem die Maßnahmen zur Endlösung der Judenfrage behandeln, Zwangsscheidung und Deportation. Zudem stellt der Sollner Ortsgruppenleiter in seinem Gesamturteil am 14.7.1940 Bergengruens regimeuntreues Verhalten, seine starke konfessionelle Gebundenheit und vor allem die jüdische Abstammung der Ehefrau fest. Im September 1942 ereilt die Familie dann ein weiterer Schicksalsschlag. Drei Tage nach Werner Bergengruens fünfzigsten Geburtstag wird das Haus im Zuge des „Sich Einschießens“ (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens, S. 177) bei einem Luftangriff zerstört. In der Nacht vom 19. auf den 20. September trifft eine Luftmine, die wohl eher die Zerstörung des Bahnhofs zum Ziel hatte, das Haus in der Hirschenstraße. Glücklicherweise erwachen in dieser Nacht die beiden jüngeren Kinder durch den Luftalarm und die Familie verschanzt sich im Vorzimmer, das keine Außenwände besitzt, zum üblichen, der Ablenkung dienenden Mensch-ärger-dich-nicht-Spiel. Nur so können sich alle Familienmitglieder vor einstürzenden Wänden und umherfliegenden Gegenständen noch ins Freie retten. Zunächst ist geplant, das Haus zu erhalten, und umliegende Nachbarn eilen, teils aus Sensationslust, teils aus tiefer Anteilnahme, herbei, um die Habseligkeiten zu retten. Die Ortsbehörde verfügt jedoch kurze Zeit später die Zwangsräumung, da das Haus einsturzgefährdet sei. Trotz des großen Verlustes reagiert Werner Bergengruen fast erleichtert darauf, den „Kulturschutt“ los zu sein. (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens, S. 181). Später schreibt er in seinen autobiografischen Aufzeichnungen zu diesem Verlust: „Daß ihm, wie allen Katastrophen, zugleich etwas Befreiendes, Verjüngendes innewohnte, habe ich leidenschaftlich empfunden. Über vieles war man mit einem Schlage hinausgehoben.“ (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens, S. 181)
Am 1. Oktober 1942 brechen die Eheleute, nachdem sie die beiden jüngeren Kinder in einem Schwarzwälder Internat haben unterbringen können und die älteste Tochter zunächst bei einem Münchner Buchhändler untergekommen ist, nach Tirol auf, um am Achsee ein Jagdhaus zu beziehen. Das sich am Rande von Achenkirch befindliche Domizil, welches sich im Besitz einer Wiener Gräfin befindet, die es lediglich als Sommersitz nutzt, wird von Ida Friedericke Görres vermittelt. Die Ausgrenzung aus dem alltäglichen Gefahrenkreis, die Abgeschiedenheit und die Landschaft beflügeln den Dichter. In dieser Zeit arbeitet Bergengruen vor allem an erzählender Lyrik, wie den 43er Balladen, an alten und neuen Novellenstoffen und Gedichten, die vor allem im Gedichtband „diese irae“ (1945) erscheinen werden. Charlotte Bergengruen hingegen hat gegen die widrigen Umstände zu kämpfen. Die Lebens- und Heizmittel sind knapp und die Kinder bleiben nicht mehr nur für die Sommerferien, sondern dauerhaft, da ihr Internat hat schließen müssen. Die Besetzung Achenkirchs durch die deutsche Heeresgruppe Süd und die Errichtung der Kommandozentrale im Jagdhaus gelten beinah als glücklicher Umstand, denn die Familie profitierte von der Versorgung der Soldaten. Im Frühjahr dieses letzten Kriegsjahres rettet noch einmal der Bergengruen‘sche „Schutzengel“ seine Frau vor den Nationalsozialisten. Am 19.3.1945 erscheint die Polizei im Jagdhaus, um Charlotte Bergengruen abzuholen. Durch den harschen Ton, mit dem Bergengruen auf die widrigen Transportverhältnisse aufmerksam macht, lassen sich die Polizisten einschüchtern und verlassen das Haus wieder. Zudem soll Werner Bergengruen in den letzten Kriegstagen noch zum Volkssturm eingezogen werden, doch die Nachricht von Hitlers Tod, dem Waffenstillstand und der Kapitulation machen der persönlichen Gefahr ein Ende. Dennoch bleiben Anspannung und Sorgen erhalten, denn das Paar muss den Amerikanern weichen und die Hausherrin des Jagdhauses fordert ihr Wohnrecht ein. Zudem droht den nun ungeliebten Reichsdeutschen die Ausweisung aus Österreich. Werner Bergengruen erinnert sich an die österreichische Staatsbürgerschaft seines Vaters. Er ergreift die Möglichkeit, sich auf seine Abstammung zu berufen und diese ebenso zu beantragen. Bis zur endgültigen Genehmigung erhält die Familie ein Bleiberecht in Österreich. Die älteste Tochter erhält ein Lehrpraktikum in der Achenkircher Volksschule, später einen Studienplatz in Innsbruck und es gelingt, die beiden Jüngeren wieder im Internat unterzubringen. In dieser unbeständigen Zeit ergibt sich der glückliche Zufall, dass es sich ein junger Schweizer Verleger zur Aufgabe gemacht hat, heimatlose deutsche Schriftsteller unter den Schutz des Arche-Verlages zu stellen. Nachdem Bergengruens Verlag „Hanseatische Verlagsanstalt“ aufgelöst worden ist, ergibt sich nicht nur dichterisch eine große Gelegenheit, denn der Verleger Peter Schifferli bietet, neben dem Verlegen der Bergengruen`schen Texte, auch seine Hilfe beim Neuanfang der Familie an.
1946 gelingt es, vor allem durch die Unterstützung Schifferlis, behördliche Querelen zu bewältigen, und Werner Bergengruen und seine Frau können in die Schweiz reisen. Während das Paar vorübergehend bei den Eltern des jungen Verlegers Unterkunft findet, ist es gezwungen, sich mit geliehenem Geld über Wasser zu halten, denn erst 1947 erhält der Dichter eine endgültige Arbeitserlaubnis in der Schweiz. Die ersten Veröffentlichungen, die der feste Arbeitsvertrag mit der Arche einbringt, ermöglichen den Bergengruens, allmählich wieder einen Hausstand anzuschaffen. Sie sind in der Lage, zwei möblierte Zimmer zu beziehen und den Kindern Care-Pakete ins Internat zu senden. Nach einem aus Bergengruens Sicht unproduktiven Jahr 1947 erhält der Dichter zunehmend Anfragen aus Deutschland und beginnt mit der Arbeit an neuen Stoffen oder stellt alte fertig. 1950 erscheint seine größte Lyriksammlung „Die heile Welt“, in der sich Gedichte versammeln, die zur Zeit des Nationalsozialismus beziehungsweise kurz danach entstanden sind. Zudem werden zahlreiche Novellen, wie „Das Tempelchen“ (1950) oder die Sammlung „Flammen im Säulenholz“ (1953) verlegt und die ersten autobiografischen Bekenntnisse in den Aufzeichnungen „Das Geheimnis verbleibt“ (1952) zusammengestellt. Werner Bergengruen lernt Ende der vierziger Jahre Zürich lieben und gewinnt auch hier literarische Freunde, die sich wöchentlich im Café Odeon am Bellevue versammeln. Künstler wie N. O. Scarpi, Erwin Jaeckle, Ernst Heß, Robert Faesi oder Max Rychner nehmen den Fabulierer „mit seinem sanften Poetenstock, in dem ein Tintenfässchen verborgen war“ (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens, S. 225) auf und lernen das „episches Naturell“ des „Plauderers und Schweigers an einem Stabe“ (Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens, S. 225) schätzen. Trotz künstlerischer Geborgenheit und der allmählichen Besserung der privaten Verhältnisse drängt es Bergengruen immer wieder zum Aufbruch. Vortragsreisen, Lesungen und Diskussionsrunden bieten dem „modernen Nomaden“ allerlei Gelegenheit zu reisen. Die Anfrage des Herder-Verlages, anlässlich des Heiligen Jahres 1950 eine „Biografie“ über die Stadt Rom zu schreiben, empfindet nicht nur der Dichter, sondern auch seine Frau als großes Glück. Charlotte Bergengruen bewertet Italien als lebenslangen „Heimatersatz“ (Lebensbild, S. 23) ihres Mannes, der als Mittelpunkt der antiken Welt und der Kirche schon immer ein „Sehnsuchtsziel“ (Lebensbild, S. 23) gewesen sei. Angeregt durch dieses sehr glückliche und erfüllte halbe Jahr reist Bergengruen auch nach Erscheinen des „Römischen Erinnerungsbuches“ (1949) häufig nach Italien und in die südliche Schweiz. Nach einem vorübergehenden Umzug nach Oerlikon bei Zürich beziehen die Bergengruens 1951 eine moderne Wohnung in Effretikon nordöstlich des Züricher Sees.
Baden-Badener Kuraufenthalte in den Jahren 1955 und 1956 bewegen das Paar nach einem weiteren Jahrzwölft in der Fremde zu einer Rückkehr nach Deutschland. Nicht nur die Mondänität des Weltbades, sondern auch die Nähe zu den Kindern, Enkelkindern und ebenso die zu Reinhold Schneider, mit dem Bergengruen mittlerweile eine enge Freundschaft pflegt, motivieren die Eheleute noch ein letztes Mal zu Hausbesitz. Am Fuße des Merkurberges entsteht ein modernes Haus, dessen Gestaltung Charlotte Bergengruen selbst übernimmt. Obwohl dem Deutschbalten zahlreiche Auszeichnungen (u. a. 1948 Wilhelm-Raabe-Preis, 1958 Ehrenddoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilian-Universität München, 1962 Schiller-Preis) und diverse Mitgliedschaften (z. B. ab 1949 Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung oder in Nachfolge Reinhold Schneiders ab 1958 Mitglied im Orden „Pour le mérite“) angetragen werden und er neben Hermann Hesse zu einem der meistgelesenen Prosadichter unter den deutschen Studenten gilt, bekommt auch er den Druck linksintellektueller Kreise zu spüren. Nach der Debatte um Mann und Thieß, in der um die Wirksamkeit und die Rechtmäßigkeit von dichterischem Exil und poetischem Rückzug in der Heimat in der Zeit des Dritten Reiches gestritten wird, gerät Werner Bergengruen mit seiner vermeintlichen „Heile-Welt-Lyrik“ selbst in kulturphilosophische Streitfragen, die vor allem Theodor Adorno aufwirft. Dennoch entsteht Mitte der Fünfziger noch eine große Roman-Trilogie. Mit „Der letzte Rittmeister“ (1952), „Die Rittmeisterin“ (!954) und „Der dritte Kranz“ (1962) verlässt der späte Bergengruen die strenge Form und kehrt gewissermaßen zum Mündlichen zurück. „Die Rittmeisterin“ versieht er mit dem Untertitel „Wenn man so will ein Roman“. Hier reihen sich lose Episoden und Anregungen für das tägliche Leben aneinander.
Weiterhin beschäftigt sich der Dichter zunehmend mit autobiografischen Sentenzen und Essays, die in den „Schreibtischerinnerungen“ (1961) zusammengestellt sind, und veröffentlicht in seiner Schrift „Mündliche gesprochen“ (1963) Reden. Bergengruens späte lyrische Phase, ab etwa 1962, ist durch „wehmütige Abschiedsstimmung“ (Dichtung als Kulturvermittlung, S. 22) gekennzeichnet. Neben der Auseinandersetzung mit dem Tod betreibt der Deutschbalte in diesen Gedichten zudem wortstark eine letzte Standortbestimmung. Er preist die Erde, rühmt das Leben und beschwört die Freiheit und die Unabhängigkeit.
In ihrem Lebensbild schließt Charlotte Bergengruen den eindringlichen Bericht über die gemeinsamen sechs Jahre in Baden-Baden mit dem Vermerk, dass der September die große Zeit ihres Mannes gewesen sei. Im September ist er geboren und im September 1964 habe er dem Tod mit Zuversicht entgegengesehen.
September will ich singen,
September sag ich an.
Die harten Schalen springen,
das flüssige Gold gerann.Verglichen steht die Waage,
sie weiß von keiner Last.
Die Frucht der späten Tage
Ruht unbewegt im Ast.Im Lösen und im Binden
wird neu die Zeit gewagt.
Verborgenes Wiederfinden
ist allem zugesagt.Da steht verklärt im Frieden
die dunkle Felsenwand.
Und was dich je gemieden,
liegt still auf deiner Hand.Es kehrt, was längst zerstoben,
genesen bei dir ein.
Nun wird es aufgehoben
und unverlierbar sein.Den Hornruf hör ich schmettern
blank im Septemberton:
umrauscht von Flammenblättern
Komm heim, Septembersohn!Jetzt bleibt dir zu ersinnen
der schweigende Gesang
vom leuchtenden Beginnen
in jedem Untergang.Zu goldnen Jahresringen
heb dich mit Laub und Tann!
September will ich singen,
September sag ich dann.
(Lebensbild, S. 26)
Am 4. September 1964 stirbt Werner Bergengruen nach schwerer Krankheit in Baden-Baden.
- Werner Bergengruen. Dichtergehäuse. Zürich. 1966.
- Hackelsberger, Luise N.: Werner Bergengruen. Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens. Bücher Reisen Begegnungen. Zürich. 1992.
- Bergengruen, Charlotte: Lebensbild. In: Allerleirau von einer Frau. Unveröffentlichte Aufzeichnungen. S. 1-26.
- Wilk, Werner: Werner Bergengruen. Köpfe des XX. Jahrhunderts. Band. 52. Berlin.1968.
- Gorski, Herbert (Hg.): Werner Bergengruen. Kern der Welt. Gedenkband. Leipzig. 1970.
- Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg (Hg.): Dichtung als Kulturvermittlung. Der Schriftsteller Werner Bergengruen. Beiträge für Unterricht und Weiterbildung. Heft 7. Filderstadt. 1997.
- Bergengruen, Luise: Jahrgang 24. Weiblich. Kein Roman. Annweiler. 2009.
- Compendium Bergengruenianum