Werner Bergengruen-Preis 2009 an Svenja Leiber
Erste Preisträgerin war die in Hamburg geborene, heute in Berlin lebende junge Autorin Svenja Leiber, die kurz zuvor mit dem Erzählband „Büchsenlicht“ debütierte. Verliehen wurde die Auszeichnung am 10. Oktober 2009 anlässlich einer Tagung der Werner Bergengruen-Gesellschaft zum Thema „Alte Novelle – Neues Erzählen“. Die Laudatio hielt der Juror Wend Kässens, langjähriger Literaturchef des NDR. In seiner Begründung für die Preisverleihung lobte er die lakonisch knappe und atmosphärisch dichte Erzählweise der Autorin: „Hinter den dörflichen Fassaden des Wohlstands und der industriellen Tierproduktion entdeckt Svenja Schreiber Verstörte und zerrissene Doppelexistenzen, deren Wünsche und Phantasien in den verklinkerten Wartezimmern der Desillusionierung und hinter unkrautfreien Vorgärten wuchern.“ Dieses literarische Debüt aus dem regnerischen Norden sei „mal grölend laut, mal ironisch böse, häufig zärtlich leise“, so die Begründung, und führe die novellistische Erzählkunst Werner Bergengruens zeitgemäß weiter.
Mit dem Werner Bergengruen-Preis erhielt Svenja Leiber (Jahrgang 1973) bereits ihre vierte Auszeichnung: 2005 bekam sie den Förderpreis des Bremer Literaturpreises, 2006 für ihre Erzählung „Eckenepen“ den Literaturpreis Prenzlauer Berg und im Jahre 2007 den Kranichsteiner Literaturförderpreis.
Laudatio Svenja Leiber von Wend Kässens
Wend Kässens: Laudatio für Svenja Leiber, Literaturpreis der Werner-
Bergengrün-Gesellschaft, 9.10.2009, Uelzen
Verehrte Honoratioren, meine Damen und Herren, liebe Svenja Leiber,
als ich vorgestern an meinem Schreibtisch arbeitete, wurde ich im Laufe des frühen Nachmittags durch mehrere emails von Kritikerkollegen überrascht, die sich gegenseitig gratulierten. Ich hatte den 13-Uhr-Termin verpasst, an dem der diesjährige Literaturnobelpreisträger bekanntgegeben wurde. Herta Müller, der wir gerade, wenige Tage vorher, den vergleichsweise bescheidenen Hoffmann von Fallersleben-Literaturpreis für zeitkritische Literatur zugesprochen hatten, bekommt nun auch den Literaturnobelpreis. Wir lagen also voll im Trend, wie man heute zu sagen pflegt. Auch wenn ich zugeben muß, daß ich damit nicht unbedingt gerechnet hatte. Ich habe den Kollegen dann zurück gemailt, daß ich begeistert sei, das bisher aber nicht so richtig zur Kenntnis habe nehmen können, weil ich an einer Laudatio auf die erste Werner-Bergengruen-Preisträgerin säße, die ich am Sonnabend halten müßte – es handele sich dabei um die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2027, dann sei Deutschland wieder dran – und man möge sich doch schon mal darauf einstellen.
Ein Erstlingswerk, wie der Erzählband „Büchsenlicht“, von solcher Sprachkraft, von einer so besonderen atmosphärischen Dichte, von einer solchen Bandbreite von Tönen ist ungewöhnlich. Kein Wunder, daß die 1975 in Hamburg geborene und in Berlin lebende Svenja Leiber bereits 5 Preise und 3 Stipendien für ihre bisher noch schmale literarische Arbeit bekommen hat. Als Dr. Frank Lothar Kroll, der frühere Präsident der Bergengruen-Gesellschaft 1999 in der Podiumsdiskussion des Baden-Badener Symposiums gefragt wurde, warum er Bergengruen so in Ehren halte, sprach er vom „echten Lektüre-Erlebnis“ und bezog sich vor allem auf Bergengruens Erzählung „Die drei Falken“. Ein ganz anderes, aber nicht minder echtes Lektüre-Erlebnis, meine Damen und Herren, können Sie machen, wenn Sie sich das Erstlingswerk, den Erzählungsband „Büchsenlicht“, von Svenja Leiber zu Gemüte führen. Hier spielt das Baltische zwar keine Rolle, aber von einer spezifischen Form des Humors kann man auch bei dieser Autorin sprechen, das Skurrile, Bizarre und Schrullige kommt auch bei ihr vor – in der ganzen Bandbreite der Erscheinungsformen, vom Gemütvollen und Melancholischen über das Spießige und Böse bis zum Gefährlichen, ja Mörderischen. Der Titel „Büchsenlicht“ ist schon ein Hinweis, hier wird gelegentlich auch scharf geschossen, kommt mancher zu Tode, ob er will oder nicht. Bei Wikipedia findet man ja Erklärungen zu allem und jedem: Es geht beim Büchsenlicht um die besten Lichtverhältnisse bei der Jagd, bei starkem Mondschein hinter den aufsteigenden Nebelschwaden z.B., und dann steht da noch, ich zitiere wörtlich: „Als Faustregel gilt, daß das Büchsenlicht dann ausreichend ist, wenn man bei ausgestrecktem Arm noch den Schmutz unter den Fingernägeln sehen oder einen roten von einem grünen Faden unterscheiden kann“. Diese Faustregel stammt vermutlich noch aus der Zeit vor Bergengruen, Schmutz hat heute kaum noch jemand unter den Fingernägeln. Und im Dunkeln einen roten von einem grünen Faden unterscheiden zu können ist für viele vermutlich eher ein ideologisches Problem als eines von Farbenblinden und Scharfsichtigen. Vielleicht liegt es daran, daß heutzutage viel zu viele Wildschweine unterwegs sind.
Svenja Leiber verortet ihre Geschichten in der norddeutschen Provinz. Da sie in der Nähe Lübecks aufgewachsen ist und es gelegentlich Hinweise auf das nahe Meer gibt, kann man sich in Uelzen beruhigt zurücklegen: Schleswig-Holstein ist gemeint, Ähnlichkeiten mit anderen Landschaften, Orten und lebenden Personen sind rein zufällig und ganz sicher nicht beabsichtigt. Man könnte von Jagd-, Kriegs- Nachbarschafts- und Paarungsszenen sprechen, das Zwischenmenschliche steht auf dem Prüfstand, im Buch selbst taucht das Wort „Familienschlachthaus“ auf. Wer sich an Stefan Raabs Hit „Maschendrahtzaun“ und an den legendären, dörflich sächsischen Nachbarschaftsstreit erinnert, der dem Lied zugrunde liegt, der kann sich auch vorstellen, wie es schon in der harmlosesten Variante zwischenmenschlicher Widersprüche zugeht, die Svenja Leiber subtil und abgründig zu steigern versteht bis Tod oder Erbrechen eintritt. „Zwischen den Autos auf dem Parkplatz hockten Teile der Gesellschaft und übergaben sich“ heißt dann z.B. so ein lakonischer Satz in der Erzählung „Raschpichler“ – nomen est omen.
Erst trauern und dann trauen an einem Tag, Leichenschmaus und Hochzeitsgäste begegnen sich im Feldkrug, da wird viel getrunken auf den einen und die andere, und da kann das auf dem Parkplatz schon mal passieren und das andere auch! Denn die Braut Heide Raschpichler hatte eigentlich den anderen Hans gemeint, den Knecht vom Großbauern, und ist dann wegen der Verwechslung eines Liebesbriefes doch beim Bauern Hans Rothhals gelandet, der besseren Partie natürlich. Der Bauer Hans Rothals gehörte ganz sicher zu denen, die sich am Parkplatz übergaben, während der Knecht Hans in der Nähe des Parkplatzes am Waldrand stand und sich im Dunkeln seiner geliebten Heide am Tage der Hochzeit mit dem anderen Hans noch mal nähern durfte. Kein Wunder, daß da neun Monate später, am Ende der bösen Erzählung, ein Menschensohn geboren wird. Das Leben als eines der Härtesten, hier wird es Ereignis! Die Geschichte mit dem Titel „Eckeneckepen“, die gleich wuchtig, ungemütlich und doppelbödig beginnt: „Landregen. Lehmschwere Stiefel an lehmschweren Bauern, Gurgelndes am Straßenrand und Schleimspuren auf dem Asphalt. Die Metallgartenpforte, ein Kiesplattenweg.
In den Rabatten Bewegungsmelder, zwei Lampen, eine an der Pforte, eine an der Haustür, alles gut sichtbar. Drinnen auf den Fensterbrettern Flaschendeckel mit Ameisengift. Zwischen den gelben Körnern zusammengerollte Arbeiterinnen, vollgesogen bis oben hin.“ Die Geschichte erzählt vom neuzeitlichen Bauer Leites mit seinen erst 700 und dann 1000 Schweinen und seinem konservativen Gegenpart Hein Gorken. Deren Frauen gehen ihre eigenen Wege, die von Gorken hat es mit dem Abdecker, die von Leites mit dem Schnaps. Und dann gibt es da noch Holm, den Bruder von Frau Leites, ein empfindsamer Klarinettenspieler mit Verfolgungswahn, der aus Angst zündelt, als Gorken ihm droht, die Flöte, wie er sagt, in die Gülle zu schmeißen. Eckeneckepen ist in der nordischen Sagenwelt der Feuerteufel, die Geschichte endet heiß und tragisch…; oder die Sommer-Geschichte „Der erste Schnitt“, die von Jugendlichen handelt, die sich abends außerhalb des Dorfes am Container treffen und vom Streit zwischen der Polizistentochter und der 14jährigen Jula, dem Schwarm der Jungs, die aber – im Gegensatz zur Polizistentochter – niemanden an sich heran läßt. Sie ist hübsch und hat ein offenes Geheimnis: sie ist psychisch krank, verletzt sich mit Schnitten selbst, Folge einer verletzenden Jugend, zu dicht am Vater und weitgehend ohne Mutter. Die Polizistentochter ist am Reitlehrer Christiani interessiert, Jula am Ausritt mit seinem schönsten Pferd Toska. Christiani signalisiert ihr Entgegenkommen. Wie weit wird sie gehen für ihre Sehnsucht? Giftig humorvoll auch die Geschichte „Grenzwert“: Ein Nachbarschaftsduell zwischen Außenseitern, Zugezogenen, beiden hat Bauer Lange ein Grundstück verkauft, dazwischen ein Graben „voll mit Scheiße“, weil Jenkes ständig ihren Dreck hineinschütten. Gehört der Graben nun zu Jenkes oder zur Familie der Ich-Erzählerin, der wegen des verstopften Grabens das Wasser im Keller steht und die nun bei der Gemeindeversammlung vorstellig geworden ist? Aber es wird mehr getrunken als gesprochen und Bauer Lange schweigt ganz. „Na, dann gehört der Graben wohl euch“ fasst der vorsitzende Amtmann das Verschwiegene zusammen – trinkt seinen Schnaps und beendet die Sitzung. Vorhang zu und alle Fragen offen. Daß ganz am Ende und lange danach der Amtmann mit der Schnauze in Rattengift knallt und nicht wieder aufsteht, gibt zu denken und zu Untersuchungen Anlaß.
Die nur sehr locker miteinander verschränkten Erzählungen sind alles andere als hemdsärmelig. Dieser Eindruck ginge in eine falsche Richtung. Sie kommen auch, anders als bei Bergengruen, nicht aus der mündlichen Erzähltradition. Es sind wunderbar komponierte, bildintensive und atmosphärisch dichte Erzählungen, die meistens mit einer Pointe enden, manchmal auch offen bleiben, dem Leser zur Nachdenklichkeit gereichen. Man könnte sie mit ihrem volkstümlich kritischen Charakter, den Konflikten um Alt und Neu, zwischen Alt und Jung, zwischen Frau und Mann, durchaus als Novellen bezeichnen. Die Sammlung „Büchsenlicht“ bildet einen Zyklus, dessen eigentliches Thema die innere und äußere Leere ist und die Dekadenz und die Degeneration, die sich aus dieser Leere entwickeln. In dieses Vakuum stoßen vom Fernsehen und anderen Drogen befeuerte, wild wuchernde Wünsche und Phantasien, denen die banale Wirklichkeit heftig im Wege steht. Die Diskrepanz zwischen dem, was die Menschen wollen, was die Medien ihnen einreden, und dem, was das Leben tatsächlich für sie bereit hält, sind unüberbrückbar geworden. Deshalb sind viele von ihnen außer sich, hilflos verstrickt in Ersatzbefriedigungen, in aggressiven Ehe- und Familienstreitereien, im harschen Generationenkonflikt, in Gewaltexzessen, geflüchtet in Psychosen und andere Krankheiten – oder der Langeweile anheimgegeben, der Antriebslosigkeit, dem Alkohol, dem Fernsehen oder dem Computer, einer gnadenlosen Perspektivlosigkeit und Gleichgültigkeit.
Schon die Jungen imitieren das Balzgehabe ihrer Eltern, machen Erfahrung mit Käuflichkeit von allem jedem und werden früh auf die Gleise gesetzt, auf denen ihre Eltern schon länger nicht mehr vorankommen. Erziehung findet nicht selten als Gewaltakt oder gar nicht statt, Gefühle von Zuneigung, Momente von Liebe oder Solidarität werden unterdrückt, versteckt oder sind reduziert auf hastige sexuelle Übergriffe. Die Jugend ist isoliert, in ihren Ängsten und unausgegorenen Träumen und Gefühlen alleingelassen, nicht selten Opfer der Menschenverachtung, der Ignoranz und des Lebensüberdrusses der Eltern. Einheimische und Zugereiste, Altbauern, Bauern und Knechte, Junge und Alte untereinander und gegeneinander in Kleinkriegen und überdrüssiger Hassliebe miteinander verbunden.
Die Wunden, die die Menschen sich gegenseitig schlagen, weil sie im Nächsten eher den Feind als den Freund vermuten, korrespondieren mit den Fassaden, hinter denen sie sich verschanzen. Um so größer das Elend, um so mehr muß kaschiert werden. Jeder ein Darsteller seiner Selbst, alle auf der Bühne des Konsums. Die zur Siedlung aufgeblähten Dörfer mit Super- und Baumarkt auf der grünen Wiese, die Welt der rot, gelb und weiß verklinkerten und frisch gewaschenen Reihenhäuser mit Carports und den geschniegelten, mit der Schere bearbeiteten handtuchgroßen Vorgärten, die betonierten Höfe, die Tankstellen mit Werkstatt, die kleinen Handwerksbetriebe und die industriellen Großmastunternehmen an den Rändern – das alles versteigt sich zu einer „Olympiade der Hässlichkeit“, wie es in der Erzählung „Vermissling“ heißt: steril, unfreundlich, lebensfeindlich, das ländliche Pendant zu den unwirtlichen und immer gleichen Fußgängerzonen der deutschen und europäischen Städte.
Eine Pathologie des Provinzlebens? Ja! Das steckt ganz sicher auch in diesem Erzählband! Glaube keiner, wie das als Verdacht aus der einen oder anderen Kritik zu lesen war, daß hier eine Welt von gestern gezeigt wird. Die satirische Überzeichnung ist eine famose Möglichkeit der Literatur, die grundlegenden existenziellen Probleme unseres Lebens zur Kenntlichkeit zu verzerren! Wir sind ganz im Hier und Jetzt. Es sind heutige Menschen, heutige Probleme und heutige planierte Natur- und betonierte Industrie-Landschaften. Ein verwilderter Garten wird „ein sterbender Zauber“ genannt, „der Abend rutschte leise durchs Fenster hinein“, „und sonntags mit dem Rasentrimmer immer rund um den Besitz“; der brutale Tönnes wird als „ein jähzorniger, zwei Meter hoher Wutausbruch“ beschrieben, der von seiner Frau Herta sagt: „Wenn man sie in eine Abferkelbucht lege, könne man sie eh kaum von einer Sau unterscheiden“ – das Poetische und das Rustikale stehen dich nebeneinander, das Menschenverachtende ist als Geisteszustand und Bedrohung immer dabei. Das Gefälle macht die Abgründe sichtbar, die sich in und zwischen den Menschen auftun. Es ist auch das Gefälle zwischen Kultur und kultureller Wüste.
Diese Widersprüche haben auch damit zu tun, daß jeder auf seine Weise irgendwie seine Haut zu Markte trägt und tragen muß – und das ist hier durchaus wörtlich zu verstehen. Viele leiden darunter und fühlen sich dabei nicht wohl in ihrer Haut oder meinen, sie steckten gar nicht drin. Andere haben sich in ihrer Haut, die sie zu Markte tragen, wohlig eingerichtet. Ich zitiere aus der Erzählung „Der erste Schnitt“, der Jugendgeschichte im Umfeld des Containers vor dem Ort und der Kontroverse zwischen der Polizistentochter und der 14jährigen Jula: „Den Großen sah man ihre Überlegenheit schon daran an, wie sich ihre Haut über ihren Körper spannte. Als hätten sie sich selbst genäht, so daß es eben passte. Jula war weit. Sie war außerhalb ihrer Haut. Sie beneidete die anderen darum, daß sie die anderen waren. Sie wäre selbst gerne eine andere gewesen“. Wer kennt nichts Rimbauds Satz „Ich ist ein anderer“. „Ich will einer werden, der ein anderer gewesen ist“ heißt es bei Peter Handkes Stück „Kaspar“. Ich will hier nicht auf das sogenannte Spiegelstadium des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan eingehen. Nur so viel: Die psychisch kranke Jula, die sich zur Selbststrafung immer wieder selbst verletzen muß und die sich selbst bei allem, was sie denkt und tut, immer wieder unsicher hinterfragt, hat sich offenbar zu wenig von jener so toll passenden Haut aneignen können, die man auch als Identität bezeichnen könnte. Während es auf der anderen Seite auch zuviel Identität geben kann, eine narzisstische Identität, eine Art von Selbstverliebtheit, die mit sich im reinen ist und jede Andersheit aus Selbstschutz ablehnt. Das ist ein Thema, das sich offen und unterschwellig durch das Buch zieht: Die Skepsis und Ablehnung gegenüber den Außenseitern und Zugereisten, den Verstörten und gesundheitlich Angeschlagenen wie Holm, oder Jula. Dagegen ist der vorherrschende Alkoholismus ein harmloses Kavaliersdelikt, bei dem alle die Augen zudrücken – und das sich auch lange gut kaschieren läßt.
Die Personenzeichnung in den Erzählungen reicht von der bissigen Karikatur, wie sie z.B. George Grosz früher oder der Österreicher Gerhard Haderer heute mit ihren Spießerphysiognomien hervorgebracht haben, bis zur sympathisierenden Darstellung zwischen zärtlicher Annäherung und verhalten ironischer Distanz der alten Nachbarinnen in der Erzählung „Greta, verkalkuliert“ – Frauen, die ihr Leben größtenteils hinter sich haben und denen beim 70. Geburtstag von Grete Herz und Mund überläuft angesichts dessen, was sie auf den Höfen, mit ihren Männern, Kindern und Enkeln, aber auch während des Krieges oder während der Flucht erlebt haben, als der Tod ein häufiger Begleiter war und die Altbauern „alle ein paar Seelen auf dem Gewissen hatten“, die, die jetzt „alle auf saubere Weste“ machten, wie Greta wissend feststellt. Durch den raffinierten Umgang mit Ambivalenz, gelingt es der Autorin in der Regel, ihre Personen vor einer zu leichten Ablehnung und Verachtung durch den Leser zu schützen. In der Jagdgeschichte um einen Bock mit dem Titel „Beute“, die auch mit der Beute etwas zu tun hat, die der Sohn des Hauses Tom in der Person Lunas mit nach Hause gebracht hat, lernen wir Toms Mutter Kubiz als eine freundliche Frau kennen, die ihre Ängste vor Hexen durch immer neue Kriminalromane pflegt und ihrem Sohn und seiner Freundin Buttercremetorten auftischt. Die Autorin zeichnet gleichwohl ein Bild von ihr, das man nicht unbedingt als sympathisch empfindet, ich zitiere: „Die Kubitz zog mit dem Fuß einen Schemel heran und legte die schweren Beine hoch. Ihr Körper lagerte. Er glich einer hügeligen Endmoränenlandschaft, in deren Tälern sich Wasser sammeln mochte. Krampfadern an ihren Schienbeinen leuchteten durch die Nylonstrumpfhose. Mäander. Sie bewegte die Fußspitze und stöhnte leise.“ Eine solche Gratwanderung zwischen sympathischem Verhalten und Freundlichkeit einerseits, einer gewissen Verkommenheit des äußerlichen Erscheinungsbildes und der Selbstdarstellung andererseits – das meine ich mit Ambivalenz: der Leser selbst muß für sich eine Haltung gegenüber dieser Frau finden, muß feststellen, was für ihn überwiegt. Die Frau ist nicht von vornherein bloßgestellt oder nur verurteilt. Vielmehr ist das Humanum gewahrt, die Karikatur erschlägt nicht die Person. Svenja Leiber läßt den Menschen literarisch Gerechtigkeit widerfahren, jenen vor allem, die hilflos vor sich selber sind. Jula, von der wir schon gehört haben. Oder Dirk z.B., der es mit Hilfe seiner ehemals ebenso drogenabhängigen Freundin Kati und der Arbeit beim Großbauern schafft, seine Drogenabhängigkeit zu besiegen. Daß Kati nun „den Fernsehschauspielern beim Geldverdienen“ zusieht und Dirk „seine Wanderjahre im Netz“ verbringt, ist nur ein Webfehler und ein anderes Problem. Wenn Kati nicht vergessen hätte, ihm Bescheid zu sagen, hätte er natürlich auch wieder einen Job angenommen. Aber das war ja nun nicht.
Sucht man nach Traditionen eines solchen Erzählens, könnte man vergleichsweise an die Dorf- und Kleinstadtromane Oskar Maria Grafs denken, an den „Starken Stamm“ von Marieluise Fleißer oder auch an die Kleinstadtdramen von Heinrich Lautensack, dem Freund Wedekinds. Es sind merkwürdigerweise eher bayerische Traditionen, die einem dazu einfallen. Das Plattdeutsche, die norddeutsche Region, hat vergleichbare Literaten von diesem Rang nicht hervorgebracht, wenn man von Fritz Reuter mal absieht. Aber das liegt zeitlich noch weiter zurück. Umso schöner, daß wir mit Svenja Leiber eine Autorin entdecken können, die eine Erzählweise entwickelt, die der kargen, spröden norddeutschen Diktion durch Lakonie nahe kommt, die das norddeutsche Idiom aufgreift, die sich dezent des Plattdeutschen bedient, aber auch des Sprachspiels oder der Alliteration: „Die Polizistentochter war lecker. Dorfkatze, Dorfmatratze, Dorfgeschwatze.“ Hier und da verstecken sich auch Reime im Sprachfluß. „Naa, heute schon geritten oder wieder nur geschnitten?“ fragt die Polizistentochter ihre Kontrahentin Jula und will witzig sein. Jula antwortet herb und cool: „Heut schon was geblickt oder wieder nur gefickt?“
Svenja Leiber ist eine Autorin , die wie zur Zeit keine zweite die Trostlosigkeit und die Folgen unserer normierten, durchrationalisierten, ökonomisierten, globalisierten und kontrollierten Existenz in den norddeutschen Regen malen kann – mal grölend laut, mal ironisch böse, mal zärtlich leise. Immer aber subtil, abgründig und voller Witz. In einem Interview mit der TAZ hat sie bedauert, daß ihr Buch, ihre Geschichten eher zur Bestandsaufnahme reichen und nicht zum positiven Entwurf zum Leben. Das stimmt so nicht: Ihr scharfer und genauer Blick fängt nicht nur beißend komisch das Elend der Einsamkeit, der Ängste, der Leere, der Kultur- und Traditionslosigkeit, der kleinen und größeren Kriege, der mittleren Fluchten und der großen Käuflichkeit, Verkommenheit und Verzweiflung ein. Das Buch ist auch ein fulminanter Kommentar zu Botho Strauß’ Neuformulierung eines Satzes von Goya: „Der Schlaf der Liebe gebiert Ungeheuer“. Das Buch atmet die Sehnsucht nach dieser Liebe und macht evident, warum wir sie brauchen und wie sehr wir sie vermissen und wohin wir verkommen. Es ist also ansteckend für seine Leser. Wir brauchen weniger den Entwurf zum Leben, als den Impuls, ins Offene, nach draußen zu gehen, unterwegs zu sein, damit wir wieder sehen, unsere Sinne gebrauchen lernen! Wieder lieben können. Das Unbehauste ist die Perspektive, das Unbehauste, das auch Bergengruen bei allen Schmerzen, die es ihm bedeutete, hat produktiv werden lassen. Es ist um Gottes Willen nicht das Unbehaustsein als Folge von Kriegen oder Vertreibung, von Gewalt oder Verlust angestrebt. Es ist das Unbehaustsein desjenigen, der sich aussetzt, der etwas wagt, der über den eigenen Schatten springt, der seinen Weg angstlos in die Zukunft geht, der aufbricht. Der Band „Büchsenlicht“ enthält dazu eine Geschichte, die etwas herausfällt aus dem Zyklus: „Vermissling“ ist der Titel, vermissen und misslingen stecken in dieser Wortschöpfung. Eine schmerzhafte deutsch-russische Erzählung vom Kommen und vom Gehen, eine Befragung der Liebe und ob und wie sehr sie erwacht ist. Diese Erzählung verweist auf das nächste Buch von Svenja Leiber, das ich schon kennen darf und das mich nicht weniger begeistert hat als „Büchsenlicht“. Es wird im nächsten Jahr erscheinen, ein Roman, und trägt den etwas ungewöhnlichen Titel „Iwan die Maria“ – und ich darf Ihnen versichern, meine Damen und Herren, Sie zeichnen die Richtige aus! Ich bedanke mich für das Vertrauen, das die Werner-Bergengruen-Gesellschaft in mich als Juror gesetzt hat! Und gratuliere Svenja Leiber zum ersten Werner Bergengruen-Preis!
Herzlichen Glückwunsch!
Dankrede Svenja Leiber
gehalten am 10. Oktober 2009 in Uelzen
Sehr verehrte, liebe Anwesende!
Lassen Sie mich, bevor ich meinen Dank ausspreche, eine kleine Begebenheit erzählen, die mir vor zwei Wochen, auf meinem Parforceritt durch den Nahen Osten, zugestoßen ist:
Ich hatte mit zwei Begleitern den Versuch unternommen, von Amman nach Jerusalem zu fahren. Wir waren uns wohl bewusst, eine der am schärfsten bewachten Grenzen der Welt zu passieren, hatten aber die Information, dass die Kontrollen höchstens 3 bis 4 Stunden in Anspruch nähmen. So machten wir uns zeitig auf den Weg und überquerten noch am Morgen die jordanische Grenze, um in einem reichlich überfüllten Bus zur israelischen Grenze gebracht zu werden. Auf intensivste Weise mussten wir nun erfahren, was es heißt begrenzt zu werden. Denn anstatt uns bis zum zweiten Übergang durchzuwinken, ließ man den gesamten Konvoi von Reisebussen bei 35 Grad im Schatten über acht Stunden im Niemandsland stehen, ohne die Gelegenheit, wenigstens umzudrehen und auf einen Israelbesuch zu verzichten. Acht Stunden also in dieser zerstörerischen Hitze auf der Allenby Bridge.
Zwei Stunden habe ich damit verschwendet, mich innerlich darüber zu empören, was für eine Wüste in der Wüste die Grenzer hier vor allem den Palestinänsern, denn die waren ja die Adressaten dieser Schikane, bereiteten. Aber wie es so ist, der Mensch muss nur lang genug in einem Gehäuse bleiben, dann kommen die Gedanken. Immerhin zwang man uns zu einem Aufenthalt am Jordan, was in der Regel verboten ist. Unter uns floss ein grünlicher Bach, bewachsen mit Schilf, die Lebensader der gesamten Region, hier nur noch ein Rest, der einige hundert Meter links von uns, kurz hinter der Taufstelle, ins Tote Meer rieseln würde. Und es erschien mir plötzlich als unendlich stimmig, dass die Taufe, die Namensgebung, gerade hier stattgefunden hatte, wo das Lebendigste in das Tote fließt. Und wo ich gerade noch bedauert hatte, dass man überhaupt etwas von dem guten, kostbaren, süßen Wasser in dieses beinah obszön salzige Becken hinein verschwendet, empfand ich es jetzt als Notwendigkeit. Das Leben ins Salz überleiten, dem Urstrom eine Struktur verleihen.
Letztendlich, so empfand ich, macht ein Schreibender nichts anderes, als das ihn umsprudelnde Leben in das Sammelbecken seiner Erzählung zu leiten, indem er es benennt und so lange verdampft, bis nurmehr ein Substrat zurück bleibt, ein Bewusstsein, etwas Reduziertes, das seine Energie aus dem hat, was es nicht mehr hat.
Eigentlich auch ein schauriger Prozess.
„Das Furchtbarste ist für mich Prosa schreiben…“, äußerte Thomas Bernhard einmal.
Wie oft empfinde ich das! Das Schreiben widerspricht an irgendeinem Moment ganz dem Leben. Ich könnte doch etwas anderes tun! Ich habe Familie, habe viele Jahre studiert, könnte in anderen Bereichen arbeiten!
Aber etwas zwingt mich immer wieder an meinen schlecht ausgerüsteten Schreibtisch, dem jegliche Bequemlichkeit fehlt, um erneut, abgesehen von wenigen euphorischen Momenten, in die quälenden Arbeit des Schreibens einzutreten.
Warum? Was interessiert mich daran? Selbstüberwindung? Selbstkasteiung? Eine Grenze, einen Gegner zu haben?
Dabei sind es ja nicht die Figuren selbst, die eventuelle Gegner darstellen. Die Figuren sind ja künstliche Bilder von Menschen, zu denen ich tiefste Zuneigung empfinde. Meistens sind es Leidende und Erniedrigte.
Meine gesunden und gut funktionierenden Zeitgenossen und auch mich selber, empfinde ich dagegen als lächerlich. Der Bewohner der modernen Metropole: lächerlich. Die Ersten unseres Staates: eigentlich doch zunehmend lächerlich –
Es gibt eine Erzählung in dem schmalen Band, für die ich das ganze Buch einstampfen lassen könnte. Die Erzählung versucht, eben diese funktionierenden Zeitgenossen zu schildern. Das Ergebnis: eine lächerliche Erzählung. Ganz missraten. Ich bin dazu nicht in der Lage.
Ich muss an die Ränder gehen um das zu finden, was ich lieb haben kann. Ich muss in einen Bus gezwängt sein, auf einer Brücke, an der Grenze, an der Peripherie, um Menschen zu finden, deren Anblick mich in die Knie zwingt, so sehr berührt mich etwas an ihnen. Wie sie ihre Tasche tragen, ihr Kopftuch, wie die Jacke bis oben hin geschlossen ist, wie sich eine das Haar frisiert, ein anderer ins Leere sieht und schon alt ist. Das alles erregt mich, regt mich an, zwingt mich, zu schreiben.
Es ist dies eine Liebe zum Menschen, die auch einsam macht. Und dass Sie mich aus dieser Einsamkeit ausgraben um zu sagen: es ist gut so, es hat Berechtigung – dafür danke ich von Herzen!
Ich danke für diese „späten Rosen“, deren Duft auch meine jetzige Arbeitseinsamkeit mildert.
Ich danke für den Werner-Bergengruen-Preis, der mir auch einen Autor näher gebracht hat, dessen skurriler, gütiger und schmunzelnder Blick auf die Merkwürdigkeiten dieser Welt und ihrer Menschen mich sehr berührt.
Auch ihm möchte ich danken für seine Lust am Menschen in seinen „vielen Gestalten“. Möge es mir durch mein weiteres Arbeiten gelingen, dieser Würdigung, aber auch diesem Autor gerecht zu werden!
Svenja Leiber