Alte Novelle, neues Erzählen – Bergengruen neu lesen
Tagung der Werner Bergengruen-Gesellschaft vom 9, bis 10. Oktober 2009
Die Tagung der Werner-Bergengruen-Gesellschaft „Alte Novelle, neues Erzählen – Bergengruen neu lesen“, die vom 9, bis 10. Oktober 2009 in Uelzen stattfand, versammelte zeitweilig bis zu 50 Teilnehmer im Ratssaal der Stadt Uelzen und im Empfangsaal der Sparkasse Uelzen/Lüchow-Dannenberg. Am 10. Oktober 2009 fand dort zum ersten Mal die Verleihung des Werner-Bergengruen-Preises statt. Die Laudatio auf die junge Preisträgerin Svenja Leiber, deren erster Erzählband „Büchsenlicht“ in allen großen Feuilletons Aufmerksamkeit erregt hatte, hielt Wend Kässens, der Literaturchef des NDR-Hörfunks.
Tagungsbericht
Gemäß der Vorgabe im Projektförderungsantrag beschäftigte sich die Tagung zunächst mit der Rezeption Werner Bergengruens heute in der Wissenschaft (Lehrende, Lernende, Fachliteratur), nachdem der Schriftsteller, Ende der sechziger Jahre noch prominent in Vorlesungen und im Lehrplan von Schulen, nach der Kulturrevolution der 68er aus allen Schullesebüchern und Lehrplänen verschwunden ist.
Nadine Docktor von der Universität Saarbrücken belegte mit einer Umfrage unter Studierenden, dass „Werner Bergengruen einer mindestens absoluten Mehrheit junger literaturinteressierter Menschen noch nicht einmal mehr grob bekannt“ ist. Besser steht es um die Rezeption in der Fachliteratur, wobei besonders in jüngerer Zeit die ideologischen Vorbehalte (konservativer „Heile Welt“-Autor) einer vorurteilsfrei auf die erzählerischen Qualitäten konzentrierten Betrachtung weichen. Im Zuge der zunehmenden Beschäftigung mit einer „Inneren Emigration“ während des Dritten Reiches figuriert Bergengruen sogar vielfach als „Paradevertreter jener Epochensequenz“.
Günter Scholdt (Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass) ging in seinem Vortrag den ideologischen Vorbehalten zu Bergengruens Werk an Beispielen von Lexikoneinträgen, Literaturgeschichten und Äußerungen in den Medien (besonders im Fernsehen) im einzelnen nach. Dabei betonte er, dass für ihn „Literaturgeschichte alles sein [dürfe], nur kein Katechismus für retrospektiv beurteilte Korrektheit“. Und Scholdt fügt hinzu: „Wer in aller Welt rechtfertigt eigentlich solche wertende Dominanz bestimmter Themen, solche Ausschließlichkeit, wonach jeder seriöse Autor offenbar das Gleiche zu tun hat wie Brecht, Heinrich Mann oder Erich Fried? Sind Literarhistoriker mittlerweile so uniformiert, dass aus volkspädagogischen Erwägungen heraus offenbar nurmehr ein einziges Thema Billigung findet und andere Stimmen oder Akzente nicht mehr geduldet werden? Welche Enge, Verarmung, ästhetische Banauserie wirkt hier zu Lasten Bergengruens, der noch ganz andere Stoffe, Töne und Akzente im Repertoire hatte.“
Der intellektuellen Widerstandsleistung Bergengruens im Dritten Reich ging Frank-Lothar Kroll im besonderen nach. Dabei zeigte er die Schwierigkeiten des Schriftstellers auf, seine Opposition zu den Nationalsozialisten in dieser Zeit öffentlich zu machen, ohne sich und seine Familie existentiell zu gefährden. Bergengruens Strategie des „zwischen den Zeilen Schreibens“, der Auswahl bestimmter historischer Stoffe, der Konspiration über anonyme Gedichte eröffneten immerhin Möglichkeiten der Kommunikation mit Gleichgesinnten (Reinhold Schneider, Geschwister Scholl u.a.).
Die „Osteuropäischen Schauplätze im Werk Werner Bergengruens“ beleuchtete Maria Schütze, die jüngste Tochter des Schriftstellers, die für den ausgefallenen Vortrag über Bergengruen als baltischen Autor einsprang. Der Beitrag lieferte eine interessante Ergänzung zur üblichen Fokussierung auf das Baltikum, indem er den Blick öffnete auf die dem Baltikum benachbarten osteuropäischen Länder, in denen Bergengruen wohl ebenso häufig seine Stoffe angesiedelt hat, nämlich auf Ungarn, Polen, Litauen (das ja nicht, wie manchmal fälschlich angenommen, zu den baltischen Ostseeprovinzen zählte), auf Weißrußland und Rußland. Der Vorliebe für diese Regionen habe Bergengruens generelle Liebe zum osteuropäischen Geschichtsraum, den weiten Landschaften und zum normativen Habitus und zur Mentalität seiner Bewohner entsprochen.
Der zweite Tag wurde eröffnet durch die erstmalige Verleihung des Werner-Bergengruen-Preises an die junge Erzählerin Svenja Leiber. Wend Kässens, ehemaliger Literaturchef des NDR-Hörfunks, hielt die Laudatio, und Svenja Leiber bedankte sich mit einer kurzen Lesung. An Hand einer vergleichenden Betrachtung von Goethes „Novelle“ und Bergengruens „Ungeschriebene Novelle“ beschäftigte sich Bernhard Stalla, Rosenheim, mit der Novellentheorie. „Auch wenn die beiden Novellen“, so führte Stalla aus, “in zwei verschiedenen Zeitepochen entstanden sind, die inhaltliche Thematik völlig voneinander abweicht und beide Autoren unterschiedliche Vorstellungen, Anschauungen und Werthaltungen haben, ist doch beiden literarischen Werken die Klarheit des Handlungsablaufes und der Struktur gemeinsam. Exposition, Höhe- und Wendepunkt, Handlungsabfall und Ausklang gibt es genauso in der Novelle von Goethe, der mit dem Ideal einer gattungsbildenden musterhaften Idealform ein prägendes Novellen-Vorbild als Ideal von Erzählkunst verfassen und schaffen wollte, wie in der Ungeschriebenen Novelle von Bergengruen, der mit ihr eine beispielhafte Werkstattnovelle und die theoretischen Grundlagen für das Handwerk des Novellenerzählers, als Vorbild für eine gute Novellenerzählung vorstellt und mit seinen schriftstellerischen Gestaltungsmöglichkeiten schöpferisch gestaltet“.
Das anschließende Podium unter der Leitung von Günter Scholdt versammelte neben der Preisträgerin Svenja Leiber die Schriftsteller Steffen Kopetzky und Arnold Stadler zu einem Gespräch über das Tagungsthema, über die Gründe für das Auf und Ab in der Literatrur-Rezeption, die Erfahrungen mit Literaturkritikern und das je eigene Verhältnis zu Bergengruen. Ein autobiographisch fundierter Vortrag des Bergengruen-Sohnes Alexander Bergengruen über seinen Vater „im Dichtergehäuse“ schloss die Tagung, in die eine Mitgliederversammlung der Bergengruen-Gesellschaft eingebettet war, ab. Die Vorträge und die Preisverleihung wurden von ca. 50 Teilnehmern besucht und von Vorberichten und Besprechungen in der Presse begleitet. Die Tagungsbeiträge werden Bestandteil des nächsten Jahrbuchs der Bergengruen-Gesellschaft sein.
Tagungsprogramm
Freitag, 9. Oktober 2009
Rathaus Uelzen, Sitzungssaal
10.30 Uhr Eröffnung und Begrüßung
Grußworte
11.00 Uhr Bergengruen-Rezeption der Gegenwart
Nadine Docktor
11.30 Uhr Bergengruen heute oder Über den merkwürdigen, wenngleich verbreiteten Umgang mit Literaturgeschichte
Prof. Dr. Günter Scholdt, Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass, Saarbrücken
12.15 Uhr Diskussion
12.45 Uhr Mittagspause
14.15 Uhr „Früh gefühlter Schatten heranziehender furchtbarer Ereignisse“: Überlegungen eines Historikers zu Zeitkritik und Zeitdiagnose im Werk von Reinhold Schneider, Werner Bergengruen, Jochen Klepper
Prof. Dr. Peter Steinbach, Ordinarius für Geschichte an der Universität Mannheim; Wissenschaftl. Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin
15.00 Uhr Intellektueller Widerstand im Dritten Reich – Möglichkeiten und Grenzen
Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Universität Chemnitz
15.45 Uhr Diskussion
16.15 Uhr Kaffeepause
16.30 Uhr Bergengruen und der literarische Katholizismus
PD Dr. Ralf Georg Czapla, Universität Freiburg
17.15 Uhr Die verlorene Heimat – Das Baltikum im Werk Bergengruens
PD Dr. Winfrid Halder, Universität Düsseldorf
18.00 Uhr Diskussion
18.30 Uhr Mitgliederversammlung der Werner-Bergengruen-Gesellschaft
19.30 Uhr Rathausempfang der Stadt Uelzen
Samstag, 10. Oktober 2009
Sparkasse Uelzen, Empfangssaal
10 Uhr Verleihung des Werner-Bergengruen-Preises an Svenja Leiber
Laudatio: Wend Kässens
Dank und Lesung der Autorin
11 Uhr Pause
11.30 Uhr Vom Ideal der Erzählkunst bei Johann Wolfgang von Goethe: Novelle (1827) zur Kunst des Erzählens bei Werner Bergengruen: Eine ungeschriebene Novelle (1952)
Dr. Bernhard Stalla, Rosenheim
12.00 Uhr Podium zum Tagungsthema mit:
Tanja Dückers , Svenja Leiber, Steffen Kopetzky, Matthias Politycki, Arnold Stadler, Günter Scholdt.
Moderation: Eckhard Lange
13.00 Uhr Mittagspause
Rathaus Uelzen, Sitzungssaal
14.30 Uhr Mein Vater im „Dichtergehäuse“ (begleitend zur Ausstellung im Rathausfoyer)
Alexander Bergengruen, Baden-Baden
16 Uhr Ende der Tagung