Danksagung

Drawert-Vortrag-2Kurt Drawert:

Bergengruen, der „Rodensteiner“

Eine Dankesrede

Mit Werner Bergengruen verbinden mich Spaziergänge im Rodensteiner Land – jener Gegend im Odenwald, in der er in den 1920er Jahren bei seinem Schwager Dr. Hans Schenck in Lindenfels zeitweilig lebte, und in der ich, nur wenige Kilometer entfernt, eine kleine Schreibwohnung habe. Bergengruen war so fasziniert von diesem Ort, der Landschaft und den Menschen, dass er begann, die Sagen und Legenden, die hier entstanden und erzählt worden sind, zu sammeln und niederzuschreiben, wie es vor ihm schon August Friedrich Langbein und, in etwas entromantisierterer Weise, Joseph Victor von Scheffel getan haben. Das Buch Rodenstein, so der Titel bei Bergengruen, ist gerade neu aufgelegt worden, und es begleitet mich auf meinen Wanderungen, die ich hier sehr gern unternehme. Von Fränkisch-Crumbach zur Burgruine Rodenstein führt einer meiner Lieblingswege, und meistens fällt mir dabei etwas ein, das am Schreibtisch nicht gelingen wollte. Denn man darf nichts suchen, wenn man finden will, und man findet, wenn man nichts sucht, und so wird auch das Gehen zu einer Art und Weise des Schreibens. Kurz vor der Burgruine nun sind Schrift- und Bildtafeln an den Wegrand gestellt, die Auszüge aus dem Sagenbuch enthalten und auf den Autor Bergengruen verweisen. Das war meine erste Begegnung mit diesem Schriftsteller, in dessen Namen ich heute bei Ihnen sein und einen Preis entgegennehmen darf. Die Figur des „Rodensteiner“, die das Zentrum dieser Sammlung bestimmt, ist Erzählung und Metapher zugleich, und das macht sie für mich interessant.

Auf der Burg Schnellerts unweit von Rodenstein lebte im 17. Jahrhundert der Schnellertsherr, der später Schnellertsgeist genannt wurde und in der Geschichtsschreibung mit dem letzten männlichen Nachfahren des Geschlechtes der Rodensteiner identifiziert worden ist. Dieser Ritter Hans III. von Rodenstein soll recht kriegslüstern gewesen sein und Unfrieden gestiftet haben. Um in eine Schlacht zu ziehen, verließ er seine schwangere Frau, die kurz darauf während der Geburt eines toten Kindes verstarb und den treulosen Ritter verfluchte. Immer, so der Inhalt ihrer Verwünschung, sobald ein Krieg auszubrechen drohe, solle er aus seinem Grab aufsteigen und die Leute auf dem Lande rechtzeitig warnen. Seitdem also reitet der Rodensteiner mit einem unsichtbaren Heer rastlos über den Wolken, und es gibt sicher auch heute noch Einheimische, die der Überzeugung sind, sie könnten ihn hören – am ehesten wohl bei Gewitter. Soweit die Legende.

Die Metapher nun sagt uns mehr. Nämlich dass es einen Fluch gibt und eine Rastlosigkeit, die ungebunden von Ort, Raum und Zeit sind und immer aufs Neue begründet werden können. Bergengruen war dem abendländischen Humanismus und den Geboten des Christentums tief verpflichtet – eine Haltung, die ihn auch gegen nationalsozialistische Indoktrinationen bis zur Gefährdung des eigenen Lebens bewahrte –, und bei ihm könnte dieser Fluch allegorisch für den Sündenfall sein. Ich, theologisch nicht sehr gebildet, würde es eher mit Kierkegaard halten und seiner Philosophie der ontologischen Schuld, die ein Resultat der sozialen Anwesenheit an und für sich ist. Nehmen wir das als gegeben, bleibt noch die Unrast. Werner Bergengruen, in Riga geboren, in Baden-Baden beerdigt, zog nicht selten durch Länder und Land – Lübeck, Marburg, München, Berlin, Rom, Zürich, Achenkirch in Tirol –, und er kann sich schon auch etwas wie ein „Rodensteiner“ gefühlt haben, als er dessen Geschichte entdeckte.

Und damit bin ich bei mir, denn der Urgrund meines Schreibens, sofern es ihn so exemplarisch überhaupt gibt, sind eine fortwährende Ruhelosigkeit und das Gefühl, keinen Ort zu besitzen, der eine Ankunft oder gar Heimat sein könnte. Allein die Sprache, habe ich einmal geschrieben, gibt dem Wort Heimat einen Sinn. Auch wenn ich das heute so nicht mehr sagen könnte, da mein Vertrauen in die Sprache doch recht lädiert ist, fiele mir etwas Besseres nicht ein. Zu schreiben auf der Suche nach Heimat oder Heimatersatz fällt also  aus. Bei Hegel aber habe ich einen Satz gefunden, der mir weiterhilft: „Ich schreibe, um einmal zu wissen, was ich wusste.“ Im Hanser Verlag ist gerade ein Buch von Susan Sontag erschienen, das im Titel diesen Satz paraphrasiert: „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“. Es gibt also ein Wissen vor der Erkenntnis, und ein wissendes Wissen, das diese Erkenntnis ins Bewusstsein überführt. Was sich mit dieser doppelten Botschaft sofort verbindet, ist das Modell vom Unbewussten und seinen Funktionen. Ebenso lässt sich sagen, dass die Phantasmen, aus denen fiktionale Literatur entsteht, gespeist sind aus Objekten, die wahrgenommen, aber (noch) nicht verstanden werden. Die gesamte Märchen-, Sagen- oder später auch Horrorliteratur folgt diesem Prinzip und entsteht hauptsächlich dann, wenn Realität sich mehr und mehr zu einem Rätsel verschließt, wie es auch im 19. Jahrhundert der Fall war, als Mary Shelley ihren „Frankenstein“ erfand. Ich weiß also vorher nie, was ich sagen will, wenn ich schreibe, und das klingt schon sehr paradox. Ein literarischer Text entsteht bei mir im Entstehungsvorgang selbst und ist als Entstandenes dann so selbstverständlich, als wäre es immer schon meine Absicht gewesen, ihn so und nicht anders geschrieben zu haben. In diesem Zwischenreich von Ahnung und Evidenz entsteht überhaupt erst Literatur, und sie kann deshalb vorausschauend sein, weil sie im Rückschluss, in versus (also im Vers) die Elemente des Künftigen findet. Poesie als Wissen vom Unbewussten ist seit Roman Jakobson oft schon besprochen worden, und Literatur ist eben deshalb auch nicht kalkulierbar, weil sie immer mit diesem Unbewussten in Verbindungen steht, aus ihm hervorgeht und in es zurückfließt. Und dass wir verantwortlich für unser Unbewusstes sind, wie der berühmte Psychiater Viktor Frankl es sagt, davon bin ich auch überzeugt. Entstehung und Wirkung sind demnach nur selten koinzident, und es wäre naiv, die Kausalitäten in der Mechanik auf ästhetische Systeme übertragen zu wollen. Hier nun stößt auch ein auf merkantile Verwertbarkeit getrimmter Betrieb an seine Grenzen – und es sind nichts anderes als die Grenzen der Freiheit des Menschen und ihrer davon Kenntnis gebenden Literatur. Jedenfalls war das früher einmal so, und ich erinnere mich gern, wenn es schon nicht mehr der Fall ist.

Bergengruen nun, der oft linear erzählt und Realität mit sprachlich einfachen Mitteln abbildet, hat in seinen Texten durchaus diesen zweiten, subtextuellen Bezug, und das schützt ihn entschieden vor dem Verdacht der Idealisierung und Heimattümelei. Wenn wir uns einmal seine literarischen Figuren zusammendenken – und ich gebe zu, sie nicht alle zu kennen in diesem umfangreichen Werk –, dann entsteht das Panorama einer dauernden Wanderschaft vor unserem inneren Auge. Ebenso, wie ich für mich den Topos der Heimatlosigkeit in Anspruch genommen habe, um meine Literatur zu erklären, ließe sich für Bergengruen der einer Ankunftsverweigerung  gebrauchen. Es geht um Abschiede, denen keine Ankünfte folgen, um eine Zeit nach der Zeit, um, Zitat aus dem Rodensteinbuch: „Ihn, der ohne Ende ist“. Wohl alle sind wir, wenn ich diesen Vergleich jetzt beibehalten darf, auch „Rodensteiner“ – Schutzlose, Unbehauste, für die der Weg schon das Ziel ist. Der Schriftsteller, wie ich ihn verstehe, kann nur ein solcher Suchender sein, und wer gefunden hat, hätte auch keinen Grund mehr zu schreiben. Werner Bergengruen hat das in seinem Gedicht „Wandlung“, entstanden 1936, in Verse gebracht, und sie lesen sich wie ein auch poetologisches Vermächtnis.

Wandlung

Löse dich von Haus und Haft,
Eh der Herd verglimmt.
Denn zu Gottes Wanderschaft
Bist du vorbestimmt.

Raste stumm am falben Rain.
Laub ist braun gehäuft,
Da der graue Bitterwein
Aus der Wolke träuft.

Hufschlag hart am Straßenbord.
Wagenspur und Tritt
Löscht der blasse Regen fort
Und dich selber mit.

Namenloses Zeitenkind,
Baum im Wanderschuh!
Was am Prellstein hockt und sinnt,
Das bist nicht mehr du.

Gib dich der verborgnen Hand,
Die dich angerührt.
Hebe dich vom Grabenrand.
Geh. Du bist geführt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen diese schöne, berührende und stets wohl „verborgene Hand“.